Die Wohlgesinnten
geworden?« – »Hinterher? Er hat seine Reise fortgesetzt und kam über Dagestan und Afghanistan bis nach Indien. Lange Zeit war er Kadi in Delhi, wo er Mohammed Tughluq, dem paranoischen Sultan, sieben Jahre lang diente, bevor er in Ungnade fiel. Anschließend war er Kadi auf den Malediven und ist sogar bis Ceylon, Indonesien und China gekommen. Dann ist er nach Marokko heimgekehrt, um sein Buch zu schreiben, bevor er starb.«
Am Abend in der Messe war ich überzeugt, dass es sich bei Pjatigorsk tatsächlich um einen Ort der Wiederbegegnungen handelte: An einem Offizierstisch erblickte ich Dr. Hohenegg, den gutmütig-zynischen Arzt, den ich im Zug zwischen Charkow und Simferopol kennengelernt hatte. Ich begrüßte ihn: »Ich stelle fest, Herr Oberstarzt, dass General von Kleist sich nur mit guten Leuten umgibt.« Er stand auf, um mir die Hand zu geben: »Sehr liebenswürdig, aber ich gehöre nicht zu Generaloberst von Kleist, sondern noch immer zur 6. Armee, zu General Paulus.« – »Und was tun Sie dann hier?« – »Das OKH hat beschlossen, die Gegebenheiten der KMW zu nutzen, um auf der Ebene der Armeen eine medizinische Tagung zu veranstalten. Einen höchst nützlichen Informationsaustausch. Es geht darum, wer die scheußlichsten Geschichten erzählen kann.« – »Ich bin sicher, dass Ihnen diese Ehre zuteil werden wird.« – »Hören Sie, ich esse mit meinen Kollegen zu Abend; aber wenn Sie wollen, kommen Sie doch nachher zu einem Kognak in meinem Zimmer vorbei.« Ich ging mit den Abwehroffizieren essen. Das waren realistische und sympathische Männer, aber fast genauso kritisch wie der Offizier in Mosdok. Einige behauptetenunverhohlen, wenn man nicht bald Stalingrad nehme, sei der Krieg verloren; Gilsa trank französischen Wein und widersprach ihnen nicht. Anschließend ging ich allein im Zwetnik-Park spazieren, hinter der Lermontow-Galerie, einem merkwürdigen Pavillon aus blassblau bemaltem Holz in mittelalterlichem Stil, mit spitzen Erkertürmchen und Jugendstilfenstern in Rosa, Rot und Weiß: Das wirkte zwar bunt zusammengewürfelt, passte aber wunderbar hierher. Ich rauchte, betrachtete zerstreut die verblühten Tulpen, dann stieg ich den Hügel wieder bis zum Sanatorium hinauf und klopfte an Hoheneggs Tür. Er empfing mich auf seinem Sofa liegend, mit nackten Füßen, die Hände auf seinem dicken runden Bauch gekreuzt. »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht aufstehe.« Mit dem Kopf deutete er auf einen kleinen runden Tisch. »Da steht der Kognak. Seien Sie so freundlich und schenken Sie mir auch einen ein.« Ich goss uns beiden einen ordentlichen Schluck ein und reichte ihm eines der Gläser; dann setzte ich mich auf einen Stuhl und schlug die Beine übereinander. »Also, was ist die scheußlichste Sache, die Sie je gesehen haben?« Er machte eine Handbewegung: »Der Mensch natürlich!« – »Ich meinte, medizinisch.« – »Medizinisch sind die scheußlichen Sachen nicht von Interesse. Dagegen sieht man höchst merkwürdige Dinge, die unsere Vorstellung von dem, was unsere armen Leiber erleiden können, vollkommen auf den Kopf stellen.« – »Was zum Beispiel?« – »Nun, ein Mann bekommt einen winzigen Granatsplitter in die Wade, der ihm die Arteria peronea durchtrennt, und stirbt binnen zwei Minuten, immer noch aufrecht stehend, während ihm sein Blut in die Stiefel läuft, ohne dass er es merkt. Ein anderer dagegen hat einen glatten Schläfendurchschuss, steht auf und geht selbst zur Verbandstation.« – »Wir sind nicht viel«, sagte ich. »Genau.« Ich probierte Hoheneggs Kognak: ein armenischer Weinbrand, etwas süß, aber trinkbar. »Sehen Sie mir den Kognak nach«, sagte er,ohne den Kopf zu wenden, »aber ich habe in dieser lausigen Stadt keinen Rémy Martin auftreiben können. Um auf unser Thema zurückzukommen, fast alle meine Kollegen kennen solche Geschichten. Im Übrigen ist das nichts Neues: Ich habe die Memoiren eines Militärarztes in der Großen Armee gelesen, und er berichtet das Gleiche. Natürlich verlieren wir noch immer viel zu viele Männer. Die Militärmedizin hat seit 1812 zwar Fortschritte gemacht, aber die Werkzeuge des Gemetzels auch. Wir hinken ständig hinterher. Doch nach und nach vervollkommnen wir uns, da sieht man mal wieder, dass Gatling mehr für die moderne Chirurgie getan hat als Dupuytren.« – »Trotzdem vollbringen Sie wahre Wunderdinge.« Er seufzte: »Vielleicht. Jedenfalls kann ich keine Schwangere mehr sehen. Es deprimiert mich zu sehr, wenn ich daran
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