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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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denke, was auf diesen Fötus wartet.« – » Es stirbt stets nur, was geboren wird «, zitierte ich. » Die Geburt ist eine Schuld gegenüber dem Tod. « Er stieß einen kurzen Schrei aus, richtete sich unvermittelt auf und schüttete seinen Kognak in einem Zug hinunter. »Sehen Sie, das schätze ich an Ihnen, Aue. Ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes, der Tertullian statt Rosenberg oder Hans Frank zitiert, ist immer willkommen. Aber ich könnte Ihre Übersetzung kritisieren: Mutuum debitum est nativitati cum mortalitate , ich würde eher sagen: ›In wechselseitiger Schuld stehen Geburt und Tod zueinander‹ oder ›Wechselseitig ist die Schuld der Geburt mit dem Tod‹.« – »Sie haben sicherlich Recht. Im Griechischen bin ich immer besser gewesen. Ich werde einen sprachwissenschaftlichen Freund fragen, der hier ist.« Er reichte mir sein Glas zum Nachfüllen. »Da wir gerade von der Sterblichkeit reden«, fragte er in heiterem Ton, »bringen Sie noch immer arme wehrlose Leute um?« Ich reichte ihm sein Glas, ohne die Fassung zu verlieren. »Da Sie es sind, Herr Oberstarzt, der das fragt, nehme ich es nicht übel. Außerdem bin ich nur noch ein Verbindungsoffizier, was mirzusagt. Ich beobachte und tue nichts, das ist meine Lieblingsrolle.« – »Dann hätten Sie einen miserablen Arzt abgegeben. Beobachtung ohne Praxis ist nicht viel wert.« – »Deshalb bin ich Jurist geworden.« Ich stand auf, um die Balkontür zu öffnen. Die Luft war mild, aber man sah keine Sterne, und ich spürte den Regen nahen. Ein schwacher Wind raschelte in den Bäumen. Ich kehrte zum Sofa zurück, auf dem sich Hohenegg wieder ausgestreckt hatte, sein Waffenrock war jetzt aufgeknöpft. »Ich kann Ihnen allerdings versichern«, sagte ich, vor ihm stehend, »dass einige meiner geschätzten Kameraden hier ausgemachte Lumpen sind.« – »Daran zweifele ich keinen Augenblick. Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler bei Leuten, die etwas tun, ohne zu beobachten. Das gibt es sogar bei Ärzten.« Ich drehte mein Glas zwischen den Fingern. Plötzlich fühlte ich mich unnütz, unbeholfen. Ich leerte das Glas und fragte ihn: »Bleiben Sie länger?« – »Es finden zwei Tagungen statt: Dieses Mal befassen wir uns mit Verwundungen, Ende des Monats kommen wir wieder her und beschäftigen uns mit den Krankheiten. Ein Tag für die Geschlechtskrankheiten und zwei volle Tage für Läuse und Krätze.« – »Dann sehen wir uns ja noch einmal. Guten Abend, Herr Oberstarzt.« Er gab mir die Hand, und ich schüttelte sie. »Sie entschuldigen, wenn ich liegen bleibe«, sagte er.
     
    Hoheneggs Kognak erwies sich als schlechter Digestif: Zurück in meinem Zimmer, erbrach ich das Abendessen. Die Übelkeit überkam mich so rasch, dass ich gerade noch die Badewanne erreichte. Da ich bereits verdaut hatte, ließ es sich leicht fortspülen; aber es hatte einen herben, sauren und widerwärtigen Nachgeschmack; mir wäre es immer noch lieber gewesen, mich gleich zu erbrechen, es war schwierigerund schmerzhafter hochzuwürgen, aber das Erbrochene hatte wenigstens keinen Geschmack oder nur den der Speisen. Ich überlegte, noch ein Glas bei Hohenegg zu trinken und ihn nach seiner Meinung zu fragen, aber schließlich spülte ich mir nur den Mund mit Wasser aus, rauchte eine Zigarette und legte mich hin. Am folgenden Tag musste ich unbedingt zu einem Höflichkeitsbesuch beim Kommando vorbeisehen; man erwartete Oberführer Bierkamp. Gegen elf ging ich hin. Vom Boulevard der Unterstadt aus war in der Ferne deutlich der zerklüftete Kamm des Beschtau zu erkennen, der sich wie ein schützendes Götzenbild erhob; es hatte nicht geregnet, aber die Luft blieb kühl. Beim Kommando teilte man mir mit, Müller habe mit Bierkamp zu tun. Ich wartete auf der Außentreppe des kleinen Hofs, einer der Fahrer wusch den Schlamm von den Stoßstangen und Rädern des Saurer-Lkw. Die Hecktür stand offen: Neugierig trat ich näher, um einen Blick ins Innere zu werfen, ich hatte es noch nie gesehen; ich schreckte zurück und begann sogleich zu husten; es stank entsetzlich, eine übel riechende Lache aus Erbrochenem, Exkrementen und Urin. Der Fahrer bemerkte mein Unbehagen und warf mir ein paar Worte auf Russisch zu: Ich hörte nur » Grjasno, kashdy ras «, verstand aber nicht, was er wollte. Ein Orpo, offenbar ein Volksdeutscher, kam näher und übersetzte: »Er sagt, so schrecklich sei das immer, Herr Hauptsturmführer, sehr schmutzig, aber man wird den Innenraum verändern, der Boden

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