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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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erblickte, dann die Ebene und dahinter, im Dunst, die stufenförmig ansteigenden Vulkane. Wenn ich mich umwandte und nach hinten lehnte, konnte ich über dem Dach noch ein Stückchen des Maschuk erblicken, von einer Wolke verdeckt, die fast auf meiner Höhe zu treiben schien. In der Nacht hatte es geregnet, und die Luft roch rein und frisch. Nachdem ich das AOK aufgesucht und mich dem Ic, Oberst von Gilsa, und seinen Kameraden vorgestellt hatte, ging ich spazieren. Ein langer gepflasterter Weg führte vom Zentrum aus an derFlanke des Bergmassivs entlang bergan; hinter dem Lenin-Standbild musste man einige steile Stufen erklimmen, dann, nach Wasserbecken zwischen Reihen junger Eichen und duftenden Tannen, wurde die Steigung flacher. Zu meiner Linken passierte ich das Sanatorium Lermontow , in dem Kleist und sein Generalstab Quartier bezogen hatten; meine Dienststelle lag etwas abseits, in einem separaten Flügel, direkt an den Berg gebaut, der jetzt fast ganz von Wolken verhüllt war. Weiter oben verbreiterte sich der Weg zu einer Straße, die um den Maschuk herumführte und eine ganze Kette von Sanatorien miteinander verband; dort entschied ich mich für den kleinen Pavillon, die so genannte Äolsharfe, von wo aus man einen weiten Blick auf die Ebene im Süden hatte, die mit unwirklichen Höckern übersät war: ein Vulkan nach dem anderen, alle längst erloschen und friedlich. Zu meiner Rechten glänzte die Sonne auf den Wellblechdächern der im dichten Grün verstreuten Häuser; in der Ferne, ganz hinten, formierten sich die Wolken wieder und verhüllten die Massive des Kaukasus. Hinter mir ertönte eine heitere Stimme: »Aue! Sind Sie schon lange hier?« Ich wandte mich um: Voss näherte sich lächelnd unter den Bäumen. Herzlich schüttelte ich ihm die Hand. »Ich bin gerade angekommen. Man hat mich als Verbindungsoffizier zum AOK abkommandiert.« – »Sehr schön! Ich bin auch beim AOK. Haben Sie schon gegessen?« – »Noch nicht.« – »Dann kommen Sie. Gleich da unten gibt es ein ordentliches Lokal.« Er schlug einen schmalen, in den Fels gehauenen Weg ein, ich folgte ihm. Unten, den Beginn der langen Schlucht versperrend, die den Maschuk vom Gorjatschaja trennte, erhob sich eine lange Säulengalerie aus Rosengranit in italienischem Stil, schwerfällig und leichtfertig zugleich. »Das ist die Akademische Galerie«, belehrte mich Voss. »Ah!«, rief ich aus, äußerst erregt. »Dann ist das die alte Elisabethgalerie! Hier hat Petschorin Prinzess Mary zum ersten Mal erblickt.« Voss brach inLachen aus: »Dann kennen Sie also Lermontow? Hier liest ihn jeder.« – »Natürlich! Ein Held unserer Zeit war einmal mein Lieblingsbuch.« Der Weg hatte uns auf die Höhe der Galerie geführt, die als Schutz über einer Schwefelquelle erbaut worden war. Blasse Kriegsinvaliden gingen hier langsam spazieren oder saßen auf den Bänken gegenüber dem langen Einschnitt, der sich zur Stadt hin öffnete; ein russischer Gärtner jätete die Beete mit Tulpen und roten Nelken entlang der großen Treppe, die zur Kirow-Straße auf der Talsohle hinabführte. Die zwischen den Bäumen hervorragenden Kupferdächer der an den Gorjatschaja geschmiegten Badehäuser glänzten in der Sonne. Jenseits des Kamms war nur einer der Vulkane zu sehen. »Kommen Sie?«, fragte Voss. »Einen Augenblick.« Ich betrat die Galerie, um mir die Quelle anzusehen, wurde aber enttäuscht: Der Saal war nackt und leer, und das Wasser floss aus einem ordinären Wasserhahn. »Das Café liegt dahinter«, sagte Voss. Er ging durch den Bogen, der den linken Flügel vom Mittelstück der Galerie trennte; dahinter bildete die Wand mit dem Felsen eine große Nische, in die man ein paar Tische und Hocker gestellt hatte. Wir nahmen Platz, und ein hübsches junges Mädchen kam durch eine Tür. Voss wechselte ein paar Worte Russisch mit ihr. »Heute gibt es kein Schaschlik. Aber sie haben Kotelett nach Kiewer Art.« – »Sehr schön.« – »Möchten Sie Quellwasser oder Bier?« – »Ich glaube, lieber Bier. Ist es kalt?« – »Fast. Aber ich warne Sie, es ist kein deutsches Bier.« Ich steckte mir eine Zigarette an und lehnte mich an die Wand der Galerie. Es war angenehm kühl; Wasser lief über den Felsen, zwei bunte Vögelchen pickten am Boden. »Pjatigorsk gefällt Ihnen also?«, fragte mich Voss. Ich lächelte, ich freute mich, ihn hier anzutreffen. »Ich habe noch nicht viel gesehen«, sagte ich. »Wenn Sie Lermontow mögen, ist die Stadt eine echte

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