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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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entlangzog. »Hier muss es sein«, sagte Voss, »wir gehen drum herum.« Seit uns die Autos überholt hatten, hatten wir niemanden gesehen, ich hatte das Gefühl, in der Einöde zu sein; doch nach ein paar Schritten begegneten wir einem barfüßigen jungen Burschen, der einen Esel führte und wortlos an uns vorüberging. Der Mauer folgend, gelangten wir schließlich auf einen kleinen Platz vor einer orthodoxen Kirche. Eine alte, schwarz gekleidete Frau auf einer Kiste verkaufte ein paar Blumen; andere kamen aus der Kirche. Jenseits desGitters lagen die Gräber, unter hohen Bäumen verstreut, die den abschüssigen Friedhof in Schatten tauchten. Wir folgten einem mit groben, in den Boden eingelassenen Steinen gepflasterten Weg, der bergan zwischen alten Gräbern hindurchführte, die sich in trockenen Gräsern, Farnkraut und dornigen Sträuchern verloren. Stellenweise fielen Lichtflecken zwischen die Bäume, und auf den Sonneninseln tanzten kleine schwarzweiße Schmetterlinge um verwelkte Blumen. Dann machte der Weg eine Wendung, und die Bäume ließen einen Durchblick auf die Ebene im Südwesten. In einer Einfriedung stand die Stele, die die Stelle von Lermontows erster Grabstätte markierte, im Schatten zweier kleiner Bäume. Die einzigen Laute waren das Zirpen der Zikaden und das leichte Rascheln des Windes in den Blättern. Neben der Stele lagen die Gräber von Lermontows angeheirateter Verwandtschaft aus dem Hause des Khans Girej. Ich wandte mich um: In der Ferne durchschnitten die langen grünen Balki die Ebene bis zu den ersten felsigen Gebirgsausläufern. Die Buckel der Vulkane glichen vom Himmel gefallenen Erdklumpen; dahinter ahnte ich den Schnee des Elbrus. Während Voss sich umsah, setzte ich mich auf die Stufen, die zur Stele führten, und dachte wieder an Lermontow: Wie jeden Dichter töten sie ihn erst, bevor sie ihn verehren.
    Der Abstieg in die Stadt führte uns über den Werchni Rynok, den Markt, wo die Bauern gerade das letzte unverkaufte Geflügel, Obst und Gemüse auf ihre Karren und Maultiere luden. Um sie herum zerstreute sich die Menge der Verkäufer von Sonnenblumenkernen und Stiefelputzer; Jungen saßen auf Wägelchen, die sie sich aus Brettern und Rädern von Schubkarren zusammengebastelt hatten, und warteten auf einen verspäteten Soldaten, der sie vielleicht aufforderte, seine Pakete zu befördern. Am Fuße des Hügels, auf dem Kirow-Boulevard, standen auf einer Anhöhe, von einer kleinen Mauer umgeben, Reihen frisch zusammengenagelterKreuze: Der hübsche kleine Park mit Lermontows Standbild war in einen deutschen Soldatenfriedhof verwandelt worden. Der auf den Zwetnik-Park zulaufende Boulevard führte an den Ruinen der ehemaligen orthodoxen Kathedrale vorbei, die 1936 vom NKWD gesprengt worden war. »Haben Sie bemerkt«, sagte Voss und deutete auf die Steintrümmer, »dass sie die deutsche Kirche nicht angerührt haben? Unsere Männer gehen da noch zum Beten hin.« – »Ja, aber sie haben in der Umgebung drei Dörfer von Volksdeutschen geräumt. Der Zar hatte sie 1830 aufgefordert, sich hier anzusiedeln. Im letzten Jahr wurden sie alle nach Sibirien deportiert.« Aber Voss war mit seinen Gedanken noch bei seiner lutherischen Kirche. »Wussten Sie, dass sie von einem Soldaten erbaut wurde? Einem gewissen Kempfer, der unter Jewdokimow gegen die Tscherkessen gekämpft und sich hier niedergelassen hat.« Im Park, gleich hinter dem Gittertor am Eingang, stand eine zweistöckige Holzgalerie mit futuristischen Kuppeltürmchen und einem Vorbau, der um das obere Stockwerk herumlief. Dort standen einige Tische, wo man Gästen, die es sich leisten konnten, türkischen Mokka und Süßigkeiten servierte. Voss wählte einen Platz auf der Seite der Hauptallee des Parks, über einer Gruppe schlecht rasierter, mürrischer und zänkischer alter Männer, die am Abend die Bänke mit Beschlag belegten, um Schach zu spielen. Ich bestellte Kaffee und Kognak; dazu wurden kleine Zitronenkuchen serviert; der Weinbrand kam aus Dagestan und schien noch süßer zu sein als der armenische, passte aber gut zu den Kuchen und meiner guten Laune. »Wie kommen Sie mit Ihrer Arbeit voran?«, fragte ich Voss. Er lachte: »Ich habe noch immer keinen ubychischen Muttersprachler gefunden; aber ich mache beträchtliche Fortschritte in Kabardinisch. Ich kann es gar nicht abwarten, dass wir Ordshonikidse einnehmen.« – »Wieso?« – »Nun, ich habe Ihnen schon erklärt, dass mich die kaukasischen Sprachen nur am Rande

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