Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
mit einer Schwefelquelle.« – »Ist Petschorin hier nicht Vera begegnet?« – »Ich bin mir nicht sicher. War das nicht in der Grotte unterhalb der Äolsharfe?« – »Das sollten wir überprüfen.« Die Wolken zogen dicht über unseren Köpfen vorbei: Ich hatte den Eindruck, nur den Arm heben zu müssen, um über die Dampfvoluten streichen zu können. Der Himmel war überhaupt nicht mehr zu sehen, es herrschte eine gedämpfte, lautlose Atmosphäre. Unsere Schritte knirschten auf dem Boden; der Weg stieg leicht an, und bald waren wir mitten in den Wolken. Wir konnten kaum noch die großen Bäume erkennen, die den Weg säumten; die Luft schien erstickt, die Welt war verschwunden. In der Ferne erklang der Schrei eines Kuckucks im Wald, ein unruhiger, unendlich trauriger Ruf. Wir gingen eine ganze Zeit schweigend nebeneinander. Das zog sich lange hin. Ab und an ahnte ich die verschwommenen Umrisse massiger Gebilde, vermutlich Gebäude; dann wieder nur Wald. Die Wolken begannen sich aufzulösen, das Grau schimmerte in trübem Licht, und plötzlich zerfaserten sie, verstreuten sich, und wir standen in der Sonne. Es hatte nicht geregnet. Zu unserer Rechten, hinter den Bäumen, zeichneten sich die zerklüfteten Umrisse des Beschtau ab; nach zwanzig Minuten waren wir beim Denkmal. »Wir haben die große Tour gemacht«, sagte Voss. »Andersherum wäre es schneller gegangen.« – »Ja, aber es hat sich gelohnt.« Das Denkmal, ein weißer Obelisk inmitten ungepflegter Rasenflächen, bot wenig Interessantes: schwer,sich vor dieser von bürgerlicher Pietät sorgsam aufgebauten Kulisse die Schüsse, das Blut, die rauen Schreie und die Wut des niedergeschossenen Dichters vorzustellen. Auf der freien Fläche standen deutsche Fahrzeuge; etwas tiefer, vor dem Wald, waren Tische und Bänke aufgestellt, an denen Soldaten aßen. Um mein Gewissen zu beruhigen, sah ich mir das Bronzemedaillon und die Inschrift auf dem Denkmal an. »Ich habe das Foto eines vorläufigen Denkmals gesehen, das man 1901 errichtet hat«, meinte Voss. »Eine sehr eigenwillige Halbrotunde aus Holz und Gips, hoch oben thronte eine Büste. Das sah sehr viel komischer aus.« – »Wahrscheinlich fehlten ihnen die Mittel. Gehen wir essen?« – »Ja, sie machen gute Schaschliks hier.« Wir überquerten den freien Platz und gingen zu den Tischen hinab. Zwei Fahrzeuge trugen die Verbandszeichen des Einsatzkommandos; an einem der Tische erkannte ich mehrere Offiziere. Kern winkte uns zu, ich erwiderte seinen Gruß, ging aber nicht hin, um mit ihm zu sprechen. Auch Turek, Bolte und Pfeiffer waren da. Ich wählte einen etwas abseits stehenden Tisch, nahe dem Waldrand, mit groben Schemeln. Ein Bergbewohner mit Käppchen, stoppeligen Wangen und üppigem Schnurrbart trat näher: »Kein Schweinefleisch«, übersetzte Voss. »Nur Hammel. Aber es gibt Wodka und Kompott.« – »Ausgezeichnet.« Von den anderen Tischen drang lautes Stimmengewirr herüber. Es waren auch einige Offiziere der Wehrmacht und Zivilisten da. Turek musterte uns, dann sah ich ihn lebhaft mit Pfeiffer diskutieren. Zwischen den Tischen liefen Zigeunerkinder umher. Eines von ihnen kam zu uns, » chleb, chleb « rufend, streckte es uns eine Hand entgegen, die schwarz vor Schmutz war. Der Kaukasier hatte uns mehrere Scheiben Brot gebracht, eine reichte ich dem Jungen, der sie sich sofort in den Mund stopfte. Dann zeigte er auf den Wald: » Sestra, sestra, dewotschka. Krassiwaja. « Er machte eine obszöne Geste. Voss brach in schallendes Gelächter aus undsagte schnell ein paar Worte zu dem Jungen, die ihn vertrieben. Er ging zu den SS-Offizieren und begann seine pantomimische Darbietung von Neuem. »Glauben Sie, die gehen darauf ein?«, fragte Voss. »Nicht vor all den Leuten«, erwiderte ich. Tatsächlich versetzte Turek dem Kleinen eine Ohrfeige, die ihn ins Gras warf. Ich sah, dass Turek Anstalten machte, nach seiner Waffe zu greifen; der Kleine nahm Reißaus und verschwand zwischen den Bäumen. Der Kaukasier, der hinter einer langen Metallkiste auf Beinen hantierte, kam an unseren Tisch und legte uns zwei Fleischspieße auf das Brot; dann brachte er uns die Getränke und Gläser. Der Wodka passte wunderbar zu dem Fleisch, aus dem der Saft tropfte, und wir tranken beide mehrere Gläser, das Ganze spülten wir mit dem Kompott hinunter, einem Saft aus eingelegten Beeren. Die Sonne glänzte auf dem Gras, auf den schlanken Pinien, dem Denkmal und der Flanke des Maschuk, der sich hinter allem erhob; die

Weitere Kostenlose Bücher