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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Wolken waren endgültig hinter dem Berg verschwunden. Wieder musste ich an Lermontow denken, der wenige Schritte von dort sterbend im Gras gelegen hatte, die Brust aufgerissen, wegen ein paar belangloser Worte über Martynows Kleidung. Anders als sein Held Petschorin hatte Lermontow in die Luft geschossen, sein Gegner nicht. Woran mochte Martynow gedacht haben, als er den Leichnam seines Widersachers betrachtete? Er gerierte sich selbst als Dichter und hatte sicherlich Ein Held unserer Zeit gelesen; so konnte er den bitteren Nachhall und die langsamen Wellen der Legendenbildung genießen, und er wusste auch, dass sein Name nur als der des Mörders von Lermontow in Erinnerung bleiben würde, ein zweiter d’Anthès, der Unheil über die russische Literatur gebracht hatte. Und doch musste er einmal andere Ambitionen gehabt haben, als er sich ins Leben gestürzt hatte; auch er hatte etwas leisten wollen, Gutes leisten wollen. Vielleicht war er einfach eifersüchtig auf Lermontows Begabung? Vielleicht war es ihm auch lieber,dass man sich wegen des Bösen, das er getan hatte, an ihn erinnerte, als dass man sich gar nicht an ihn erinnerte. Ich versuchte mir sein Porträt ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang mir nicht mehr. Und Lermontow? War sein letzter Gedanke, als er seine Pistole in die Luft abgefeuert hatte und sah, dass Martynow auf ihn anlegte, bitter, verzweifelt, wütend, ironisch gewesen? Oder hatte er einfach die Achseln gezuckt und das Sonnenlicht auf den Pinien betrachtet? Wie bei Puschkin ging das Gerücht, sein Tod sei eine abgekartete Sache gewesen, ein Auftragsmord; wenn dem so war, hatte er sich sehenden Auges – bereitwillig – darauf eingelassen, ganz anders als Petschorin. Was Block über Puschkin schrieb, trifft sicherlich in noch höherem Maße auf Lermontow zu: Nicht die Kugel von d’Anthès war es, die Puschkin tötete. Es mangelte ihm an freiem Raum, darin zu atmen . Auch ich litt unter Luftmangel, aber die Sonne, die Schaschliks und Vossens gut gelaunte Freundlichkeit gaben mir einen Augenblick lang die Luft zum Atmen. Wir beglichen unsere Rechnung beim Kaukasier in Besatzungs-Karbowanez und nahmen wieder den Weg zum Maschuk. »Ich schlage vor, wir gehen am alten Friedhof vorbei«, sagte Voss. »Wo Lermontow begraben lag, ist eine Stele.« Nach dem Duell hatten seine Freunde den Dichter an Ort und Stelle bestattet; ein Jahr später, hundert Jahre vor unserer Ankunft in Pjatigorsk, hatte seine Großmutter seine sterblichen Überreste mit zu sich in der Nähe von Pensa genommen, um sie neben seiner Mutter begraben zu lassen. Mit Vergnügen ging ich auf Vossens Vorschlag ein. Zwei Fahrzeuge überholten uns in einer wirbelnden Staubwolke: Die Offiziere des Kommandos fuhren zurück. Turek lenkte das erste Fahrzeug selbst; sein hasserfüllter Blick, den ich durch die Scheibe wahrnahm, ließ ihn vollends wie einen Juden aussehen. Die kleine Kolonne fuhr geradeaus weiter, während wir nach links abbogen, in einen langen Weg, der geradewegs den Hang des Maschuk hinaufführte. Nach derMahlzeit und dem Wodka fühlte ich mich in der Sonne schwerfällig; ich bekam plötzlich Schluckauf, verließ den Weg und ging in den Wald hinein. »Geht es?«, fragte Voss, als ich zurückkam. Ich machte eine unbestimmte Handbewegung und steckte mir eine Zigarette an. »Es ist nichts. Nachwehen einer Krankheit, die ich mir in der Ukraine geholt habe. Die macht sich von Zeit zu Zeit wieder bemerkbar.« – »Sie sollten einen Arzt aufsuchen.« – »Vielleicht. Dr. Hohenegg wird bald zurückkommen, dann sehen wir weiter.« Voss wartete, bis ich meine Zigarette zu Ende geraucht hatte, dann folgte er mir. Mir war heiß, ich nahm das Schiffchen ab und zog die Uniformjacke aus. Oben auf dem Hügel beschrieb der Weg eine große Schleife, von der wir einen schönen Ausblick auf die Stadt und die Ebene dahinter hatten. »Wenn man geradeaus geht, kommt man wieder zu den Sanatorien«, sagte Voss. »Zum Friedhof müssen wir durch diese Obstgärten.« Der steile, mit welkem Gras bedeckte Hang war mit Obstbäumen bepflanzt; ein angepflocktes Maultier wühlte am Boden nach abgefallenen Äpfeln. Beim Abstieg kamen wir ins Rutschen, dann nahmen wir eine Abkürzung durch einen ziemlich dichten Wald und verloren rasch den Weg. Ich zog meine Jacke wieder an, weil die Zweige und Brombeerranken mir die Arme zerkratzten. Schließlich trat ich hinter Voss in eine kleine erdige Mulde hinaus, die sich an einer Mauer aus Zementsteinen

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