Die Wohlgesinnten
Uniformjacke auf, fuhr mit der Hand darunter, bewegte sietastend und zog sie wieder hervor: Sie war voller kleiner grauer Tierchen, die er auf den Ofen warf, wo sie verbrutzelten. Ungerührt fuhr Thomas fort: »Wir haben riesige Treibstoffprobleme. Schmidt, der Generalstabschef, erinnerst du dich, Heims Nachfolger?, Schmidt kontrolliert alle Bestände, auch unsere, und er teilt sie tröpfchenweise zu. Du wirst schon sehen: Schmidt kontrolliert hier alles. Paulus ist nur noch eine Marionette. Das hat zur Folge, dass alle Fahrzeugbewegungen verboten sind. Zwischen Höhe 102 und dem Südbahnhof erledigen wir alles zu Fuß; bei weiteren Wegen müssen wir mit Wehrmachtsfahrzeugen per Anhalter fahren. Zwischen den Frontabschnitten gibt es mehr oder minder regelmäßige Verbindungen.« Es gab noch vieles zu erfahren, aber Thomas war geduldig. Am Spätvormittag hörten wir, dass Tazinskaja im Morgengrauen gefallen war; die Luftwaffe hatte gewartet, bis die russischen Panzer am Rand des Flugfeldes aufgetaucht waren, bevor sie den Platz geräumt hatte, und auf diese Weise 72 Maschinen verloren, fast zehn Prozent ihrer Transportflotte. Thomas hatte mir die Nachschubzahlen gezeigt: Sie waren katastrophal. Am vorangegangenen Samstag, dem 19. Dezember, hatten 154 Flugzeuge mit 289 Tonnen landen können; aber es gab auch Tage mit 15 oder 20 Tonnen; anfangs hatte das AOK 6 mindestens 700 Tonnen verlangt, und Göring hatte 500 versprochen. »Dem würden ein paar Wochen Kessel guttun«, hatte Möritz auf der Dienstbesprechung, bei der er seinen Offizieren den Fall von Tazinskaja mitteilte, trocken hinzugefügt. Die Luftwaffe plante, einen neuen Stützpunkt in Salsk anzulegen, 300 Kilometer vom Kessel entfernt, an der Grenze der Reichweite der Ju 52. Das versprach eine fröhliche Weihnacht.
Gegen Ende des Vormittags, nach einer Suppe und einigen trockenen Keksen, sagte ich mir: Auf geht’s, es wird Zeit, mit der Arbeit anzufangen. Aber womit? Mit der Moral der Truppe? Warum nicht mit der Moral der Truppe. Ich konntemir zwar denken, dass es nicht zum Besten um sie stand, hatte aber die Pflicht, meine Meinung zu überprüfen. Wenn ich mir ein Bild von der Stimmung der Heeressoldaten machen wollte, musste ich zu ihnen hinaus; ich nahm nicht an, dass Möritz einen Bericht über die Moral unserer ukrainischen Askaris wünschte, der einzigen Soldaten, die hier zur Hand waren. Der Gedanke, die wenn auch ganz vorläufige Sicherheit des Bunkers zu verlassen, machte mir Angst, aber es half nichts. Ich musste mir diese Stadt auf alle Fälle ansehen. Vielleicht gewöhnte ich mich ja daran, dann würde es mir besser gehen. Beim Anziehen meines Tarnanzugs zögerte ich; ich entschied mich für die tarnfarbene Seite, aber Iwans missbilligende Miene sagte mir, dass ich einen Fehler begangen hatte. »Heute schneit es. Nimm das Weiße.« Ich nahm keinen Anstoß am unpassenden Duzen und ging zurück, um mich umzuziehen. Ich setzte auch einen Helm auf. Thomas hatte darauf bestanden: »Du wirst sehen, er ist sehr nützlich.« Iwan reichte mir eine Maschinenpistole; zweifelnd betrachtete ich das Ding, ziemlich unsicher, ob ich damit umgehen könnte, hängte es mir aber trotzdem über die Schulter. Draußen wehte noch immer ein heftiger Wind und trieb dicke Flockenschwaden vor sich her: Vom Eingang des Uniwermag sah man noch nicht einmal den Brunnen mit den Kinderfiguren. Nach der erstickenden Feuchtigkeit des Bunkers belebte mich die kalte frische Luft. » Kuda? «, fragte Iwan. Ich hatte keine Ahnung. »Zu den Kroaten«, sagte ich aufs Geratewohl; am Morgen hatte Thomas mir nämlich von Kroaten erzählt. »Ist das weit?« Iwan gab ein Knurren von sich und bog nach rechts in eine lange Straße ein, die offenbar zum Bahnhof hinaufführte. Die Stadt schien relativ ruhig zu sein; von Zeit zu Zeit drang eine dumpfe Detonation durch den Schnee, selbst das machte mich nervös; unverzüglich ahmte ich Iwan nach, der dicht an den Gebäuden entlangging, und drückte mich eng an die Wände. Ich fühlte mich entsetzlichnackt und verletzlich, wie ein Krebs, der seinen Panzer abgeworfen hat; siedend heiß wurde mir bewusst, dass ich mich zum ersten Mal während der achtzehn Monate, die ich in Russland war, wirklich unter Feuer befand; eine dumpfe Bangigkeit machte mir die Glieder schwer und lähmte mein Denken. Vorhin habe ich von Angst gesprochen: Was ich hier empfand, würde ich nicht Angst nennen, jedenfalls keine offene, bewusste Angst, sondern eine fast
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