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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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überquerst.« – »Freut mich zu sehen, dass du nichts von deinem Zynismus verloren hast.« – »Mein lieber Max, ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass der Nationalsozialismus ein Dschungel ist, in dem streng darwinistische Prinzipien herrschen. Da überlebt nur der Stärkste oder der Gerissenste. Aber das willst du einfach nicht begreifen.« – »Sagen wir, dass ich eine andere Sicht der Dinge habe.« – »Ja, und was hat sie dir gebracht? Du bist in Stalingrad gelandet.« – »Und du, hast du dich wirklich freiwillig versetzen lassen?« – »Das war natürlich vor der Einkesselung. Anfangs schien alles gar nicht so schlecht zu laufen. Und außerdem gab es in der Gruppe irgendwie kein Weiterkommen. Ich hatte keine Lust, mich als KdS in irgendeinem trostlosen Nest der Ukraine wiederzufinden. Stalingrad bot interessante Möglichkeiten. Und wenn ich mich geschickt aus der Affäre ziehe, war es der Mühe wert. Wenn nicht …« – er lachte unbekümmert –, » c’est la vie. « – »Dein Optimismus ist bewundernswert. Und wie sehen meine Zukunftsperspektiven aus?« – »Deine? Ich fürchte, da sieht esschon komplizierter aus. Wenn man dich hierherversetzt hat, hält man dich nicht gerade für unentbehrlich: Da wirst du mir sicherlich beipflichten. Was einen Platz auf der Evakuierungsliste angeht, so will ich mal sehen, was sich machen lässt, aber ich kann für nichts garantieren. Andernfalls kannst du ja immer noch zusehen, dass du einen Heimatschuss abkriegst. Dann lässt es sich einrichten, dass du vorrangig rausgeflogen wirst. Aber Vorsicht! Keine zu schwere Verwundung; heim ins Reich kommt nur, wer so zusammengeflickt werden kann, dass er wieder von Nutzen ist. In diesem Zusammenhang machen wir gegenwärtig verteufelte Erfahrungen mit Selbstverstümmelungen. Du solltest sehen, was diese Burschen sich einfallen lassen, das ist manchmal schon sehr pfiffig. Seit Ende November erschießen wir mehr eigene Leute als Russen, pour encourager les autres , wie Voltaire von Admiral Byng sagt.« – »Du willst mir doch nicht ernsthaft vorschlagen …« Thomas winkte ab: »Nicht doch, nicht doch! Sei nicht so empfindlich. Ich habe das nur so dahergesagt. Hast du schon gegessen?« Seit meiner Ankunft in der Stadt hatte ich nicht mehr daran gedacht; mein Magen knurrte. Thomas lachte. »Eigentlich nicht mehr seit heute Morgen. In Pitomnik haben sie mir nichts angeboten.« – »Der Sinn für Gastfreundschaft geht hier verloren. Komm, ich zeige dir, wo du deine Sachen lassen kannst. Ich habe dich auf meine Bude legen lassen, damit ich ein Auge auf dich haben kann.«
     
    Nach dem Essen fühlte ich mich besser. Während ich eine Art Brühe hinuntergebracht hatte, in der undefinierbare Fleischstücken schwammen, hatte Thomas mir die wichtigsten Punkte meiner Aufgaben erklärt: Klatsch, Gerüchte, Latrinenparolen sammeln und über die Moral der Truppe berichten, gegen die wehrkraftzersetzende Propaganda derrussischen Seite kämpfen und einige Informanten – Zivilisten, auch Kinder – beschäftigen, die zwischen den Fronten hin und her wechselten. »Sicherlich ein zweischneidiges Schwert«, sagte er, »denn die liefern den Russen genauso viele Informationen wie uns. Oft lügen sie auch. Aber manchmal ist das von Nutzen.« In dem Zimmer, einem schmalen Raum, der mit einem eisernen Etagenbett, einer leeren Munitionskiste, einer emaillierten Waschschüssel und einem gesprungenen Rasierspiegel möbliert war, hatte er mir einen beidseitig tragbaren Winter-Tarnanzug bereitgelegt, ein typisches Produkt deutschen Erfindergeistes, weiß von der einen Seite, tarnfarben von der anderen. »Nimm den, wenn du rausgehst«, sagte er. »Dein Pelzmantel ist gut für die Steppe; in der Stadt ist er viel zu unbequem.« – »Kann man denn draußen herumgehen?« – »Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Aber ich gebe dir einen Führer mit.« Er brachte mich zu einem Wachlokal, wo ukrainische Hiwis Karten spielten und Tee tranken. »Iwan Wassiljewitsch!« Drei von ihnen hoben die Köpfe; Thomas gab einem von ihnen ein Zeichen, und er kam zu uns auf den Gang hinaus. »Das ist Iwan. Einer meiner besten Leute. Er wird sich um dich kümmern.« Er wandte sich ihm zu und erklärte ihm etwas auf Russisch. Iwan, ein junger Bursche, blond und schmächtig, mit vorspringenden Backenknochen, hörte aufmerksam zu. Wieder an mich gewandt, sagte Thomas: »Iwan ist nicht gerade ein Musterbeispiel an Disziplin, aber er kennt die Stadt wie seine

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