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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Westentasche und ist sehr zuverlässig. Geh nie ohne ihn raus und tu draußen, was er dir sagt, selbst wenn du nicht einsiehst, warum. Er spricht ein bisschen Deutsch, ihr werdet euch verständigen können. Capisce? Ich habe ihm gesagt, dass er von nun an deine persönliche Leibwache ist und für dein Leben mit seinem Kopf haftet.« Iwan salutierte und kehrte in das Wachlokal zurück. Ich fühlte mich erschöpft. »Geh schlafen«, sagte Thomas. »Morgen Abend feiern wir Weihnachten.«
    Ich weiß noch, dass ich in dieser ersten Nacht in Stalingrad wieder Metroträume hatte. Es war eine Station auf mehreren Ebenen, die aber miteinander verbunden waren, ein unermessliches Labyrinth aus Stahlträgern, Fußgängerbrücken, steilen Metallleitern und Wendeltreppen. Die Züge hielten an den Bahnsteigen und fuhren unter ohrenbetäubendem Lärm wieder los. Ich hatte keine Fahrkarte und Angst vor Kontrollen. Ich stieg mehrere Stockwerke hinunter und schlich mich in einen Zug, der die Station verließ und in einem fast senkrechten Sturzflug auf den Schienen nach vorn kippte, unten bremste, seine Richtung umkehrte, wieder am Bahnsteig vorbeifuhr und dann auf der anderen Seite abtauchte, in einen tiefen Abgrund aus Licht und wüstem Lärm. Beim Erwachen fühlte ich mich völlig zerschlagen, es kostete mich enorme Mühe, mir das Gesicht zu befeuchten und mich zu rasieren. Meine Haut juckte; hoffentlich bekam ich keine Läuse. Einige Stunden lang studierte ich den Stadtplan und einige Unterlagen; Thomas half mir bei der Orientierung: »Die Russen halten noch einen schmalen Streifen am Flussufer. Sie waren dort eingeschlossen, vor allem als der Fluss noch mit Eis ging und nicht ganz zugefroren war; auch wenn sie den Fluss immer noch im Rücken haben, jetzt kesseln sie uns ein. Hier drüber ist der Rote Platz; letzten Monat ist es uns gelungen, ihre Front – etwas weiter unten, ja, dort – zu spalten, damit hatten wir ein Standbein an der Wolga, hier, auf der Höhe ihrer ehemaligen Landebrücken. Hätten wir genügend Munition, könnten wir ihren Nachschub weitgehend unterbinden, aber wir können praktisch nur feuern, wenn wir angreifen, und sie verkehren, wie sie wollen, selbst am Tage, über ihre Routen auf dem Eis. Ihr ganzes Versorgungswesen, ihre Lazarette, ihre Artillerie befinden sich auf der anderen Wolgaseite. Von Zeit zu Zeit schicken wir ihnen ein paar Stukas hinüber, aber das sind nur Nadelstiche. Hier in der Nähe haben sie sich in einigen Häuserblocks amFluss festgesetzt, außerdem halten sie die ganze große Raffinerie bis zum Fuß der Höhe 102, eines alten tatarischen Kurgans, den wir Dutzende Male genommen und wieder verloren haben. Dieser Abschnitt wird von der 100. Jägerdivision gehalten, einem österreichischen Verband, übrigens mit einem Regiment Kroaten. Hinter der Raffinerie beginnt ein Steilufer, das zum Fluss hin abfällt, die Russen haben ein ganzes Tunnelsystem hineingebaut, unerreichbar für unsere Granaten, die darüber hinweggehen. Wir haben versucht, es zu beseitigen, indem wir Benzinfässer in die Luft gejagt haben, aber die haben alles repariert, sobald die Brände erloschen waren. Dann halten sie noch einen Großteil der Chemiefabrik ›Lasur‹ und das gesamte Gebiet, das wir wegen der Form der Gleisanlagen ›Tennisschläger‹ nennen. Weiter im Norden sind die meisten Fabriken in unserer Hand, bis auf einen Teil des Stahlwerks ›Roter Oktober‹. Von dort an ist der Fluss in unserem Besitz, bis Spartakowka, an der Nordgrenze des Kessels. Die Stadt selbst wird vom LI. Korps des Generals von Seydlitz gehalten; doch der Abschnitt mit den Fabriken gehört zum XI. Korps. Im Süden ist es das Gleiche: Der Iwan hält nur einen Streifen von rund hundert Metern Breite. Diese hundert Meter haben wir nie eindrücken können. Die Stadt wird durch die Zariza-Schlucht praktisch zweigeteilt; dort haben wir ein hübsches Höhlensystem geerbt, das sie in das Steilufer gegraben haben, es ist unser Hauptverbandplatz geworden. Hinter dem Bahnhof liegt ein von der Wehrmacht geführtes Stalag; wir haben ein kleines KL im Kolchos Wertjaschi für die Zivilisten, die wir festnehmen und nicht gleich liquidieren. Was noch? In den Höhlen gibt es Bordelle, aber die findest du selbst, wenn’s dich interessiert. Iwan kennt sich da gut aus. Übrigens sind die Mädchen ziemlich verlaust.« – »Da wir gerade von Läusen sprechen …« – »An die wirst du dich gewöhnen müssen. Schau her!« Er knöpfte seine

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