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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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1917 war, wie unwissend und rückständig. Uns blieben keine zwanzig Jahre, um es zu erziehen und zu fördern, das ist zu wenig. Nach dem Krieg werden wir uns wieder damit befassen und ganz allmählich all diese Fehler korrigieren.« – »Ich glaube, Sie haben Unrecht. Das Problem ist nicht das Volk – es sind eure Führer. Der Kommunismus ist eine Maske, die dem unveränderten Gesicht Russlands übergestülpt wurde. Euer Stalin ist ein Zar, euer Politbüro die Schar der gierigen, egoistischen Bojaren oder Aristokraten, eure Parteikader sind die gleichen Tschinowniki wie unter Peter oder Nikolaus. Das ist die gleiche russische Autokratie, die gleiche permanente Unsicherheit, die gleiche paranoide Xenophobie, die gleiche fundamentale Unfähigkeit, vernünftig zu regieren, die gleiche Verdrängung des gesunden Menschenverstandes und damit der wahren Macht durch den Terror, die gleiche hemmungslose Korruption in anderer Gestalt, die gleiche Inkompetenz, die gleiche Trunksucht. Lesen Sie den Briefwechsel zwischen Kurbski und Iwan, lesen Sie Karamsin, lesen Sie Custine. Die Grundgegebenheit eurer Geschichte hat sich nie verändert: die Demütigung, von Generation zu Generation. Seit den Anfängen, vor allem seit den Mongolen, hat alles zu eurer Demütigung beigetragen, und die ganze Politik eurer Regierungen besteht nicht etwa darin, diese Demütigung und ihre Ursachen zu beseitigen, sondern sie vor dem Rest der Welt zu verbergen. Das Petersburg Peters des Großen war auch nur ein Potjomkinsches Dorf: Das war kein Schaufenster fürEuropa, sondern eine Theaterkulisse, aufgebaut, um vor dem Westen das ganze Elend und den grenzenlosen Schmutz zu verbergen, der sich dahinter erstreckte. Doch es kann nur der gedemütigt werden, der sich demütigen lässt; und ihrerseits sind es nur die Gedemütigten, die demütigen. Die Gedemütigten von 1917, von Stalin bis zum letzten Mushik, tun seither nichts anderes, als anderen die eigene Angst und Demütigung zuzufügen. Denn in einem Land der Gedemütigten ist der Zar, und mag er noch so stark sein, ohnmächtig, sein Wille verliert sich im Morast seiner Verwaltung, er sieht sich rasch, wie Peter, dazu gezwungen, zu befehlen, dass das Land seinen Befehlen gehorcht; vor ihm buckeln sie, und hinter seinem Rücken bestehlen sie ihn oder verschwören sich gegen ihn; alle schmeicheln ihren Vorgesetzten und unterdrücken ihre Untergebenen, alle sind Sklavenseelen – Raby , wie ihr sagt –, und dieser Sklavengeist reicht bis in die Spitzen eurer Gesellschaft; der größte Sklave von allen ist der Zar, der nichts gegen die Feigheit und Demütigung seines Sklavenvolks zu tun vermag und der es in seiner Ohnmacht daher tötet oder terrorisiert und noch mehr demütigt. Und jedes Mal, wenn es einen echten Bruch in eurer Geschichte gibt, eine echte Chance, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, um eine neue Geschichte zu beginnen, verpatzt ihr es: Vor der Freiheit, dieser Freiheit von 1917, von der Sie sprachen, schrecken alle, das Volk wie die Führer, zurück und verfallen wieder in die bewährten Reflexe. Um nichts anderes handelte es sich nämlich beim Ende der NÖP und der Ausrufung des Sozialismus in einem Land. Und da die Hoffnungen noch nicht ganz erloschen waren, bedurfte es der Säuberungen. Das gegenwärtige Großrussentum ist lediglich die logische Konsequenz dieses Prozesses. Der ewig gedemütigte Russe findet immer nur einen einzigen Ausweg, indem er sich mit dem abstrakten Ruhm Russlands identifiziert. Er kann fünfzehn Stunden pro Tag in einer eiskalten Fabrik arbeiten,sein ganzes Leben nichts anderes essen als Schwarzbrot und Kohl und einem gut genährten Chef dienen, der sich zwar als Marxist-Leninist bezeichnet, mit seinen Edelnutten jedoch in einer dicken Limousine herumfährt und französischen Champagner säuft, alles egal, Hauptsache, das Dritte Rom wird inszeniert. Und dieses Dritte Rom darf sich christlich oder kommunistisch nennen, das spielt überhaupt keine Rolle. Was den Fabrikdirektor betrifft, so wird er ständig um seinen Posten zittern, seinem Vorgesetzten um den Bart gehen und ihm prächtige Geschenke machen; wird er abgesetzt, rückt ein anderer an seine Stelle, der genauso ist wie er: genauso raffgierig, genauso unwissend und genauso gedemütigt, und der seine Arbeiter verachtet, denn schließlich dient er einem proletarischen Staat. Eines Tages wird die kommunistische Fassade sicherlich zerbröckeln, mit oder ohne Gewalt. Dann wird dieses gleiche Russland

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