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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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völlig unversehrt wieder zutage treten. Solltet ihr tatsächlich siegen, werdet ihr aus diesem Krieg nationalsozialistischer und imperialistischer hervorgehen, als wir es sind, aber euer Sozialismus wird im Gegensatz zu unserem nur ein leeres Wort sein, und es wird euch nur der Nationalismus bleiben, an den ihr euch klammern könnt. In Deutschland und in den kapitalistischen Ländern wird behauptet, der Kommunismus habe Russland ruiniert; ich bin vom Gegenteil überzeugt: Es ist Russland, das den Kommunismus ruiniert hat. Der hätte nämlich eine schöne Idee sein können, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn die Revolution in Deutschland statt in Russland stattgefunden hätte? Wenn sie von Deutschen durchgeführt worden wäre, die sich ihres Wertes sicher sind, wie Ihre Freunde Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht? Ich persönlich denke zwar, dass es eine Katastrophe geworden wäre, denn es hätte unsere besonderen Konflikte noch verschärft, die der Nationalsozialismus zu lösen bemüht ist. Aber wer weiß? Sicher ist nur, dass das kommunistische Experiment, da es nun einmalhier versucht wurde, scheitern musste. Es ist wie bei einem medizinischen Experiment in einer verseuchten Umgebung: Die Ergebnisse sind wertlos.« – »Sie sind ein ausgezeichneter Dialektiker, Glückwunsch, man könnte meinen, Sie sind kommunistisch geschult. Aber ich bin müde und möchte nicht mit Ihnen diskutieren. Ohnehin sind das nur Worte. Weder Sie noch ich werden die Zukunft erleben, die Sie beschreiben.« – »Wer weiß? Sie sind ein hochrangiger Kommissar. Vielleicht schicken wir Sie in ein Lager zur weiteren Befragung.« – »Machen Sie sich nicht lustig über mich«, erwiderte er streng. »Ihr habt viel zu wenig Plätze in euren Flugzeugen, um einen so kleinen Fisch auszufliegen. Ich weiß genau, dass ich erschossen werde, jetzt gleich oder morgen. Das macht mir nichts.« Er schlug wieder einen heiteren Ton an: »Kennen Sie Stendhal? Dann dürften Sie den Satz gelesen haben: Ich sehe, nur ein Todesurteil zeichnet einen Mann wirklich aus. Das ist das einzige, was sich nicht kaufen läßt. « Ich wurde von einem unwiderstehlichen Gelächter geschüttelt; auch er lachte, aber zurückhaltender. »Woher haben Sie das denn?«, brachte ich schließlich heraus. Er zuckte die Achseln: »Ach, wissen Sie, ich habe nicht nur Marx gelesen.« – »Schade, dass ich nichts zu trinken habe«, sagte ich. »Ich hätte Ihnen gern ein Glas angeboten.« Ich wurde wieder ernst: »Schade auch, dass wir Feinde sind. Unter anderen Umständen hätten wir uns vielleicht gut verstanden.« – »Vielleicht«, sagte er nachdenklich, »vielleicht aber auch nicht.« Ich stand auf, ging zur Tür und rief den Ukrainer. Dann kehrte ich hinter meinen Schreibtisch zurück. Der Kommissar war aufgestanden und versuchte, seinen zerrissenen Ärmel zurechtzuzupfen. Immer noch stehend, bot ich ihm die restlichen Zigaretten in meinem Päckchen an. »Oh, danke«, sagte er. »Haben Sie Streichhölzer?« Ich gab ihm auch die Schachtel Streichhölzer. Der Ukrainer wartete an der Tür. »Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand nicht zuschütteln«, sagte der Kommissar mit einem kleinen ironischen Lächeln. »Aber ich bitte Sie«, erwiderte ich. Der Ukrainer packte ihn am Arm, und er ging hinaus, Zigarettenpäckchen und die Streichhölzer in seine Jackentasche steckend. Ich hätte ihm nicht das ganze Päckchen geben sollen, sagte ich mir; er wird keine Zeit dafür haben, und die Ukrainer werden die übrig gebliebenen Zigaretten rauchen.
    Über diese Unterhaltung schrieb ich keinen Bericht; was hätte ich da berichten können? Am Abend kamen die Offiziere zusammen, wünschten sich ein frohes neues Jahr und leerten die letzten Flaschen, die der eine oder andere noch aufgehoben hatte. Doch die Feier blieb trübselig: Nach den üblichen Trinksprüchen redeten meine Kameraden wenig, jeder saß in sich versunken, trank und grübelte; rasch löste sich alles auf. Ich hatte versucht, Thomas meine Unterhaltung mit Prawdin zu schildern, aber er unterbrach mich: »Ich verstehe schon, dass dich das interessiert; aber solche theoretischen Spinnereien sind nun wirklich nicht meine Hauptsorge.« Ein merkwürdiges Schamgefühl hinderte mich daran, ihn zu fragen, was aus dem Kommissar geworden war. Von Fieberschauern geschüttelt, wachte ich am nächsten Morgen auf, lange vor dem Tagesanbruch, der hier, unter der Erde, sowieso unsichtbar blieb. Beim Rasieren prüfte ich aufmerksam meine Augen,

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