Die Wohlgesinnten
Fortgehen sagte ich ihm zu, mit Thomas über seine Evakuierung zu sprechen. Er hatte unverschämtesGlück: Bei seinem Dienstgrad hatte er keine Chance, auf die Liste der unentbehrlichen Fachleute zu kommen; und wir von der SS wussten alle, dass es für uns noch nicht einmal ein Kriegsgefangenenlager geben würde, die Russen würden die SS-Männer behandeln, wie wir die Kommissare und die Leute vom NKWD. Im Hinausgehen dachte ich wieder an Prawdin und fragte mich, ob ich so gleichmütig sein würde wie er; der Selbstmord erschien mir immer noch besser als das, was mich bei den Bolschewisten erwartete. Aber ich wusste nicht, ob ich den Mut dazu haben würde. Mehr denn je fühlte ich mich in die Enge getrieben wie eine Ratte; ich konnte mich nicht damit abfinden, dass es so enden sollte, in diesem Schmutz und diesem Elend. Wieder überfielen mich Fieberschauer, voll Schrecken dachte ich daran, wie wenig fehlte, dass ich mich ebenfalls in diesem stinkenden Keller liegend wiederfinden würde, dem eigenen Körper in die Falle gegangen, bis auch ich im Eingangsbereich auf dem Stapel landen würde, endlich von Läusen befreit. Als ich wieder ins Foyer kam, ging ich nicht hinaus zu Iwan, sondern stieg die große Treppe zum Theatersaal hinauf. Das musste einmal ein schöner Saal gewesen sein, mit Logen und samtbezogenen Sesseln; jetzt war die von Granaten beschädigte Decke fast ganz eingestürzt, der Kronleuchter zwischen den Sitzen zerschellt, die von einer dicken Schicht aus Schutt und Schnee bedeckt waren. Neugierig geworden, vielleicht aber auch nur plötzlich ängstlich, wieder hinauszugehen, stieg ich hinauf, um die oberen Stockwerke zu erkunden. Auch hier hatten Kämpfe stattgefunden: Löcher waren in die Wände geschlagen worden, um Feuerstellungen zu schaffen, die Flure bedeckt mit Patronenhülsen und leeren Munitionskisten; in einer Loge lagen zwei russische Leichen, die fortzuschaffen niemand für nötig befunden hatte, tief in ihre Theatersessel versunken, als warteten sie auf den Beginn einer Aufführung, die ständig verschoben wurde. Durch eineeingeschlagene Tür am Ende des Flurs gelangte ich auf einen Steg, der die Bühne überspannte: Die meisten Scheinwerfer und Teile der Kulissenmechanik waren hinabgestürzt, einige noch an ihrem Platz. Ich erreichte die höchste Stelle: Wo sich unten der Zuschauerraum öffnete, klaffte gähnende Leere, aber auf der Bühne waren die Bodenbretter unversehrt, und das hier und dort durchgebrochene Dach ruhte noch auf seinem Balkenwerk. Ich riskierte einen Blick durch eines der Löcher: Ich sah geschwärzte Ruinen, Rauch stieg an mehreren Stellen auf; etwas weiter nördlich fand gerade ein heftiges Gefecht statt, und hinter mir hörte ich das charakteristische Heulen unsichtbarer Schturmowiks. Ich suchte die Wolga, die ich zumindest einmal gerne gesehen hätte, aber sie blieb durch die Ruinen verborgen; das Theater lag nicht hoch genug. Ich wandte mich um und betrachtete den verlassenen Dachboden: Er erinnerte mich an den in Moreaus großem Haus in Antibes. Jedes Mal, wenn ich mit meiner Schwester, von der ich mich damals nicht trennte, aus dem Internat nach Nizza zurückkehrte, stöberte ich in dem verwinkelten Haus herum und landete unweigerlich auf dem Dachboden. Dort hinauf holten wir uns ein Grammofon mit Handkurbel aus dem Salon und ein Marionettenspiel, das meiner Schwester gehörte und aus verschiedenen Tieren bestand, einer Katze, einem Frosch, einem Igel; nachdem wir ein Betttuch zwischen zwei Balken aufgespannt hatten, inszenierten wir dort, nur für uns, Theaterstücke und Opern. Unsere Lieblingsaufführung war Die Zauberflöte : Der Frosch stellte Papageno dar, der Igel Tamino, die Katze Pamina und eine Puppe von menschlicher Gestalt die Königin der Nacht. Dort oben in den Trümmern, die Augen weit aufgerissen, glaubte ich die Musik zu hören, das wunderbare Marionettenspiel in den Händen zu spüren. Ein heftiger Krampf fasste meine Eingeweide, ich ließ die Hosen runter und hockte mich hin, und während die Scheiße flüssig floss, war ich weit fort, ich dachtean die Wogen, an das Meer unter dem Bootskiel, an zwei Kinder, die, das Gesicht dem Meer zugewandt, auf dem Vorschiff saßen – ich und meine Zwillingsschwester Una –, an die Blicke und die Hände, die sich berührten, ohne dass es jemand merkte, und an die Liebe, die damals noch grenzenlos und weiter war als das blaue Meer, weiter als die Bitterkeit und der Schmerz der vernichteten Jahre – ein
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