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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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entdeckte aber keine Spur einer Rötung; in der Messe musste ich mich zwingen, die Suppe und den Tee hinunterzuwürgen; das Brot rührte ich nicht an. Dazusitzen, zu lesen, Berichte zu schreiben wurde rasch unerträglich; ich hatte das Gefühl zu ersticken; auch ohne Möritz’ Genehmigung beschloss ich, hinauszugehen und Luft zu schnappen: Vopel, Thomas’ rechte Hand, war gerade verwundet worden, ich wollte ihn besuchen. Wie gewöhnlich hängte sich Iwan die Waffe ohne Murren über die Schulter. Draußen war es außergewöhnlich mild und feucht, der Schnee am Boden verwandelte sich in Matsch, eine dichteWolkendecke verbarg die Sonne. Vopel musste im Lazarett sein, das ein Stück weiter unten im Stadttheater eingerichtet worden war. Granateinschläge hatten die Stufen zertrümmert und die schweren Holztüren weggerissen; im großen Foyer stapelten sich zwischen Marmortrümmern und zerborstenen Säulen Dutzende Leichen, die die Sanitäter aus den Kellern trugen und dort bis zu ihrer Verbrennung lagerten. Ein schrecklicher Gestank drang aus den Niedergängen zu den Kellerräumen und erfüllte die Vorhalle. »Ich warte hier«, erklärte Iwan und stellte sich vor einen der Haupteingänge, um sich eine Zigarette zu drehen. Ich betrachtete ihn, und mein Staunen über sein Phlegma schlug plötzlich in tiefe Traurigkeit um: Während bei mir zwar eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass ich nicht überlebte, hatte er überhaupt keine Chance davonzukommen. Er rauchte ruhig, gleichgültig. Ich wandte mich dem Kellergeschoss zu. »Gehen Sie nicht zu nahe an die Leichen heran«, sagte ein Sanitäter neben mir. Ich folgte seinem ausgestreckten Finger mit dem Blick: Ein dunkles, verschwommenes Gewimmel zeichnete sich auf den aufgehäuften Kadavern ab, löste sich von ihnen, bewegte sich zwischen den Trümmern. Ich schaute genauer hin, und mir drehte sich der Magen um; auf der Suche nach neuen Wirten verließen die Läuse in hellen Scharen die erkalteten Leichen. Ich machte einen großen Bogen um sie und stieg hinab; hinter mir hörte ich das höhnische Lachen des Sanitäters. In dem Kellergewölbe hüllte mich der Gestank wie ein feuchtes Tuch ein, wie etwas Lebendiges, Vielgestaltes, das sich in den Nasenlöchern und der Kehle zusammenrollte, das aus Blut war, aus brandigem Fleisch, aus eiternden Wunden, dem Qualm von nassem Holz, aus feuchter oder von Urin durchtränkter Wolle, aus fast süßem Durchfall, aus Erbrochenem. Keuchend atmete ich durch den Mund, bemüht, meinen Brechreiz zu unterdrücken. In den weitläufigen kalten Betonkellern des Theaters lagen die Verwundetenund Kranken auf Decken oder direkt auf dem Boden aufgereiht; das Stöhnen und Schreien hallte in den Gewölben wider; eine dicke Schlammschicht bedeckte den Boden. Einige Ärzte oder Sanitäter in besudelten Kitteln suchten sich langsam, ihre Füße sorgsam setzend, um auf keine Gliedmaßen zu treten, einen Weg durch die Reihen der Sterbenden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Vopel in diesem Chaos finden sollte. Schließlich entdeckte ich einen Raum, der offenbar als Operationssaal diente, und trat ein, ohne anzuklopfen. Der geflieste Boden war mit Schmutz und Blut befleckt; links von mir saß ein Mann, der einarmig war, auf einer Bank, mit offenen und leeren Augen. Auf dem Tisch lag eine blonde Frau – sicherlich eine Zivilistin, denn unsere Krankenschwestern waren bereits alle evakuiert –, nackt, mit schrecklichen Verbrennungen auf dem Bauch und unter den Brüsten, beide Beine über den Knien amputiert. Der Anblick erschlug mich; ich musste mich zwingen, die Augen abzuwenden, um nicht auf das geschwollene Geschlecht zwischen den Stümpfen zu starren. Ein Arzt kam herein, ich bat ihn, mir den verwundeten SS-Mann zu zeigen. Er bedeutete mir, ihm zu folgen, und führte mich in einen kleinen Raum, in dem Vopel, halb bekleidet, auf einem Feldbett saß. Ein Granatsplitter hatte ihn am Arm getroffen, er schien sehr glücklich zu sein, denn er wusste, dass er jetzt ausgeflogen wurde. Erschöpft und neidisch betrachtete ich seine bandagierte Schulter, wie ich früher meine Schwester an der Brust unserer Mutter fixiert haben mochte. Vopel rauchte und schwatzte, er hatte seinen Heimatschuss, und sein Glück stimmte ihn übermütig wie ein Kind, er konnte es nicht verbergen, es war unerträglich. Wie ein Amulett betastete er unaufhörlich das Anhängsel VERWUNDETE, das an einem Knopfloch seiner Uniformjacke hing, die er sich über die Schulter geworfen hatte. Im

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