Die Wohlgesinnten
Foch und Pétain trank, verabscheute. Der Parteiführer der NSDAP sollte eine Rede in einem Braukellerhalten: Ich ließ meine französischen Freunde in unserem kleinen Hotel zurück. In der Schankwirtschaft hielt ich mich im Hintergrund, hinter der Menge, und konnte die Redner kaum verstehen; was den Führer angeht, so kann ich mich nur an seine frenetischen Gesten erinnern, die seine heftigen Gefühle verrieten, und an die Haarsträhne, die ihm immer wieder in die Stirn fiel. Aber er sagte – ich war mir dessen absolut sicher – genau die Dinge, die mein Vater gesagt hätte, wenn er da gewesen wäre; wenn er noch da gewesen wäre, hätte er sicherlich auf dem Podium gestanden, als einer der Vertrauten dieses Mannes, einer seiner ersten Gefährten, vielleicht hätte er sich sogar, wer weiß, falls es das Schicksal gewollt hätte, an seiner Stelle befunden. Im Übrigen glich ihm der Führer sogar, wenn er einen Augenblick stillstand. Von dieser Reise kehrte ich zum ersten Mal mit dem Gedanken zurück, dass es für mich noch etwas anderes geben könnte als den engen und demütigenden Weg, den meine Mutter und ihr Mann für mich vorgezeichnet hatten, und dass meine Zukunft vielleicht dort liegen könnte, bei diesem unglücklichen Volk, dem Volk meines Vaters, das auch mein Volk war.
Seither hatte sich vieles verändert. Der Führer besaß noch immer das ungebrochene Vertrauen des Volkes, aber der Glaube an den Endsieg begann bei der Masse zu bröckeln. Die Menschen gaben der Wehrmachtsführung, den preußischen Junkern sowie Göring und seiner Luftwaffe die Schuld; doch ich wusste auch, dass man in der Wehrmacht die Einmischungen des Führers tadelte. In der SS erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, dass er seit Stalingrad an Depressionen leide und mit niemandem mehr spreche; als Rommel Anfang des Monats versucht habe, ihn von der Notwendigkeit einer Räumung Nordafrikas zu überzeugen, habe er diesen nur verständnislos angehört. Die Gerüchte in der Öffentlichkeit – in den Zügen, den Straßenbahnen, den Warteschlangen – nahmen wahnhaften Charakter an: Nach denBerichten des SD, die Thomas bekam, wurde gemunkelt, die Wehrmacht habe dem Führer einen Zwangsaufenthalt in Berchtesgaden verordnet, er habe den Verstand verloren und befinde sich unter Bewachung und schweren Medikamenten in einem SS-Krankenhaus, der Führer, der in der Öffentlichkeit auftrete, sei lediglich ein Doppelgänger. Die Rede sollte im Zeughaus gehalten werden, gleich neben dem Spreekanal. Als verwundeter und ausgezeichneter Stalingradkämpfer hatte ich keine Mühe, eine Einladung zu bekommen. Ich schlug Thomas vor mitzukommen, doch er antwortete lachend: »Ich bin nicht auf Urlaub, ich muss arbeiten.« Also ging ich allein hin. Es waren erhebliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden; beispielsweise war auf der Einladung vermerkt, dass das Tragen der Dienstwaffe verboten sei. Die Möglichkeit eines englischen Fliegerangriffs schreckte einige ab: Im Januar hatten die Engländer ein boshaftes Vergnügen daran gefunden, am Jahrestag der Machtergreifung einen Moskito-Angriff zu fliegen, es hatte zahlreiche Opfer gegeben. Trotzdem waren Stühle im Hof des Zeughauses aufgestellt, unter der großen Glaskuppel. Ich saß ziemlich in der Mitte, zwischen einem hochdekorierten Oberstleutnant und einem Zivilisten mit dem goldenen Parteiabzeichen am Revers. Nach einigen einführenden Worten erschien der Führer. Ich riss die Augen auf: Auf Kopf und Schultern, über seiner einfachen feldgrauen Uniform, meinte ich den großen blau-weiß gestreiften Schal der Rabbiner wahrzunehmen. Mit seiner raschen monotonen Sprechweise kam der Führer sofort in Fahrt. Ich musterte das Glasdach: Spielte mir das Licht einen Streich? Deutlich sah ich seine Mütze; doch darunter glaubte ich lange Locken zu erkennen, die von den Schläfen bis auf die Kragenumschläge seines Uniformrocks reichten, und auf seiner Stirn sah ich Tefillin , Gebetsriemen mit kleiner Lederkapsel für Thoraverse. Als er den Arm hob, war mir, als entdeckte ich an seinem Ärmelweitere lederne Gebetsriemen; und schauten unter seiner Jacke nicht die weißen Fransen jenes Tuchs hervor, das die Juden Kleinen Tallit nennen? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Prüfend blickte ich meine Nachbarn an. Sie lauschten der Rede mit feierlicher Aufmerksamkeit, der Parteigenosse nickte bekräftigend mit dem Kopf. Bemerkten die denn nichts? War ich der Einzige, der das Ungeheuerliche sah? Ich
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