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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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belehrend. »Auf die Einsatzgruppen entfällt nur ein Bruchteil der Gesamtzahlen. Selbst eine Abweichung von 10 Prozent würde das Gesamtergebnis kaum beeinträchtigen.« Ich spürte, wie sich etwas in Höhe meines Zwerchfells zusammenkrampfte. »Sie haben die Zahlen für ganz Europa, Herr Doktor?« – »Ja, vollständig. Bis zum 31. Dezember 1942.« – »Können Sie mir sagen, wie viele es sind?« Er blickte mich durch seine kleinen Brillengläser an: »Natürlich nicht. Das ist geheim, Herr Sturmbannführer.« Wir sprachen noch ein wenig über die Arbeit des Kommandos; Korherr stellte einige präzise Fragen. Schließlich dankte er mir. »Mein Bericht geht direkt an den Reichsführer«, erklärte er mir. »Wennes für Ihre Dienstgeschäfte erforderlich ist, wird er Ihnen zur Kenntnis gelangen.« Er begleitete mich bis zur Tür. »Viel Glück! Und Heil Hitler.«
    Warum hatte ich ihm diese idiotische und nutzlose Frage gestellt? Und warum interessierte sie mich überhaupt? Makabre Neugier war es gewesen, und ich bedauerte es. Ich sollte mich nur noch um die positiven Dinge kümmern: Es gab noch so viel, was der Nationalsozialismus aufbauen musste, darauf wollte ich meine Kräfte richten. Doch die Juden, unser Unglück , verfolgten mich wie ein böser Traum frühmorgens, wenn er an der Innenseite des Kopfes klebt. In Berlin waren allerdings nicht mehr viele übrig: Alle so genannten geschützten jüdischen Arbeiter in den Rüstungsfabriken waren abtransportiert worden. Aber wie gesagt, ich sollte sie unter den ungeheuerlichsten Umständen wiedersehen.
    Am 21. März, dem Heldengedenktag, hielt der Führer eine Rede. Es war sein erster öffentlicher Auftritt nach der Niederlage in Stalingrad, und wie alle erwartete auch ich seine Worte mit Ungeduld und Beklommenheit: Was würde er sagen, wie würde er aussehen? Die Schockwelle der Katastrophe war noch allenthalben zu spüren, wilde Gerüchte und Mutmaßungen wollten nicht verstummen. Ich wollte diese Rede miterleben. Ich hatte den Führer bis jetzt nur einmal leibhaftig erlebt, vor etwa zehn Jahren (inzwischen hatte ich ihn natürlich sehr häufig im Radio gehört und in der Wochenschau gesehen); es war im Sommer 1930, vor der Machtergreifung, gewesen, als ich zum ersten Mal wieder nach Deutschland gereist war. Diese Reise hatte ich meiner Mutter und Moreau abgenötigt – als Gegenleistung für meine Einwilligung in das von ihnen verlangte Studium. Nach bestandenem Abitur (allerdings ohne Prädikat, wodurch ich gezwungen war, eine Vorbereitungsklasse zu absolvieren, um die Zulassungsprüfung für die ELSP zu bestehen) ließen siemich ziehen. Es wurde eine wundervolle Reise, von der ich hingerissen und wie verzaubert zurückkehrte. Ich war mit zwei Schulkameraden, Pierre und Fabrice, unterwegs gewesen; obwohl wir noch nie von den Wandervögeln gehört hatten, folgten wir fast instinktiv ihren Spuren, wir suchten die Wälder auf, wanderten tagsüber, diskutierten bei Nacht, saßen am Lagerfeuer und schliefen direkt auf dem Boden auf Tannennadeln. Wir besichtigten die Städte am Rhein und beendeten unsere Reise in München, wo ich viele Stunden in der Pinakothek verbrachte oder in den kleinen Gassen umherlief. In Deutschland ging es in diesem Sommer wieder stürmisch zu: Die Auswirkungen des amerikanischen Börsenkrachs vom Vorjahr machten sich empfindlich bemerkbar; die für den September angesetzten Reichstagswahlen mussten über das Schicksal der Nation entscheiden. Alle Parteien agitierten heftig – mit Reden, Paraden, gelegentlich auch mit handfesten Argumenten oder sogar wüsten Schlägereien. In München hob sich eine Partei deutlich von allen anderen ab: die NSDAP, von der ich damals zum ersten Mal hörte. In der Wochenschau hatte ich bereits die italienischen Faschisten gesehen, die diese Nationalsozialisten sich als Vorbild zu nehmen schienen; aber ihre Botschaft war ausgesprochen deutsch, und der Parteichef, ein ehemaliger Frontsoldat aus dem Weltkrieg, sprach von der Erneuerung Deutschlands, dem Ruhm und einer reichen, lebendigen Zukunft des Landes. Das war der Grund gewesen, sagte ich mir, während ich sie vorbeimarschieren sah, weshalb mein Vater vier lange Jahre im Feld gekämpft hatte, um am Ende mitsamt seinen Kameraden verraten zu werden und sein Land und sein Haus, unser Haus, zu verlieren. Das war auch all das, was Moreau, dieser gute Radikalsozialist und französische Patriot, der jedes Jahr zu ihren Geburtstagen auf die Gesundheit von Clemenceau,

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