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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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musterte die Offiziellen auf der Tribüne: Hinter dem Führer erkannte ich Göring, Goebbels, Ley, den Reichsführer, Kaltenbrunner, andere führende Persönlichkeiten, hohe Wehrmachtsoffiziere; alle schauten sie mit unbewegter Miene auf den Rücken des Führers oder in den Saal. Vielleicht, sagte ich mir erregt, ist das wie in der Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern : Jeder sieht, was los ist, aber niemand lässt es sich anmerken, weil jeder darauf baut, dass sein Nachbar es genauso macht. Aber nein, rief ich mich zur Vernunft, sicherlich halluziniere ich, mit einer Verwundung wie der meinen ist das durchaus möglich. Doch ich hatte das Gefühl, vollkommen bei Verstand zu sein. Ich war ziemlich weit von der Bühne entfernt, und das Licht fiel nicht direkt auf den Führer; vielleicht war es nur eine optische Täuschung? Dennoch, ich hatte das Bild unverändert vor Augen. War es denkbar, dass mir mein »Scheitelauge« einen Streich spielte? Doch das Ganze hatte keineswegs Traumcharakter. Es war auch möglich, dass ich verrückt geworden war. Die Rede war kurz, und schon befand ich mich mitten in der Menge, die zum Ausgang drängte und in meinen Gedanken herumtrampelte. Der Führer sollte sich nun in die Räume des Zeughauses begeben, um ausgestellte Kriegstrophäen zu besichtigen, die aus bolschewistischer Hand erbeutet worden waren, anschließend die Front einer Ehrenformation abschreiten und einen Kranz an der Neuen Wache niederlegen; eigentlich hätte ich ihm folgen sollen – meine Einladungskarte berechtigte mich dazu –, aber ich war zu erschüttertund verwirrt, daher trennte ich mich möglichst rasch von der Menge und ging den Boulevard wieder in Richtung S-Bahn-Station hinauf. Ich überquerte die Fahrbahn und setzte mich in ein Café unter den Arkaden der Kaisergalerie, wo ich mir einen Schnaps bestellte, den ich in einem Zug hinunterstürzte und dem ich gleich noch einen zweiten folgen ließ. Ich musste nachdenken, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und hatte Atembeschwerden; ich öffnete meinen Kragen und trank noch einen Schnaps. Es gab ein Mittel, mir Gewissheit zu verschaffen: Am Abend im Kino würden in der Wochenschau Auszüge aus der Rede gezeigt; dann würde ich Bescheid wissen. Ich ließ mir eine Zeitung mit dem Kinoprogramm bringen: Um neunzehn Uhr gab es in einem nahe gelegenen Kino Ohm Krüger . Ich bestellte ein belegtes Brot, dann ging ich im Tiergarten spazieren. Es war noch kalt, ich sah nur wenige Leute unter den kahlen Bäumen. In meinem Kopf prallten die Deutungen aufeinander, ungeduldig wartete ich auf den Beginn des Films, auch wenn die Aussicht, dass er nichts offenbaren würde, kaum beruhigender war als das Gegenteil. Um achtzehn Uhr ging ich zum Kino und reihte mich in die Schlange an der Kasse ein. Vor mir diskutierte eine Gruppe von Besuchern über die Rede, die sie offenbar im Radio gehört hatten; begierig hörte ich zu. »Wieder hat er den Juden alles in die Schuhe geschoben«, sagte ein ziemlich magerer Mann mit Hut. »Ich verstehe das nicht, es gibt doch kaum noch Juden in Deutschland, wie kann es dann ihre Schuld sein?« – »Unsinn, du Dummkopf«, erwiderte eine ziemlich ordinäre Frau mit kunstvollen Dauerwellen in ihren gebleichten Haaren, »gemeint ist doch das internationale Judentum.« – »Mag sein«, sagte der Mann, »aber wenn das internationale Judentum so mächtig ist, warum hat es dann seine Rassengenossen hier nicht gerettet?« – »Sie bestrafen uns mit den Bombenangriffen«, sagte eine hagere, schon etwas grauhaarige Frau. »Habt ihr gesehen, was sie neulichin Münster angestellt haben? Sie wollen uns einfach leiden lassen. Als ob wir nicht schon genug litten, mit all unseren Männern an der Front.« – »Ich finde skandalös«, erklärte ein Mann mit hochrotem Gesicht, dessen dicker Bauch in einem grau gestreiften Anzug steckte, »dass er Stalingrad mit keinem Wort erwähnt. Das ist eine Schande.« – »Hören Sie mir bloß mit Stalingrad auf«, sagte die falsche Blondine. »Meine arme Schwester hatte ihren Sohn Hans dort unten, bei der 76. Division. Sie ist wahnsinnig vor Sorge, sie weiß noch nicht einmal, ob er noch lebt oder nicht.« – »Im Radio haben sie gesagt«, meldete sich die Grauhaarige wieder zu Wort, »dass alle tot sind. Hätten bis zum letzten Mann gekämpft, haben sie gesagt.« – »Und Sie glauben alles, was sie im Radio sagen, meine Beste?«, warf der Mann mit dem Hut ein. »Mein Vetter ist Oberst und hat gesagt, dass

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