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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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völlig unbedeutend. Erzählen Sie mir vom 4a.« – »Was wollen Sie wissen?« Er bückte sich hinter seinen Schreibtisch und tauchte mit einem Karton wieder auf, den er vor mich hinstellte. »Hier sind die Berichte der Gruppe C. Ich habe sie mit meinem Sekretär Dr. Plate eingehend geprüft. Da ist uns etwas Merkwürdiges aufgefallen: Manchmal sind die Zahlen außerordentlich genau: 281, 1472 oder 33 771 wie in Kiew; dann wieder sind sie gerundet. Selbst innerhalb eines Kommandos. Es gibt auch widersprüchliche Zahlen. Beispielsweise wird in einer Stadt, in der 1200 Juden leben sollten, von 2000 Juden berichtet, die der Sonderbehandlung unterzogen wurden. Und so fort. Was mich also interessiert, ist die Zählweise. Ich meine die praktischen Methoden, an Ort und Stelle.« – »Sie hätten sich direkt an Standartenführer Blobel wenden sollen. Ich denke, er könnte Ihnen besser Auskunft geben als ich.« – »Leider ist Standartenführer Blobel schon wieder im Osten und nicht erreichbar. Aber wissen Sie, ich habe da meine Vermutungen. Ich denke, Ihr Zeugnis wird sie nur bestätigen. Erzählen Sie mir beispielsweise vonKiew. Eine so gewaltige Zahl, und so genau, das ist merkwürdig.« – »Keineswegs. Im Gegenteil, je umfangreicher die Aktion war und je mehr Mittel zur Verfügung standen, desto leichter ließen sich exakte Zahlen ermitteln. In Kiew waren die Absperrungen sehr gründlich vorbereitet. Kurz vor dem Schauplatz der Operation wurden die … Patienten, also die Verurteilten, in gleich starke Gruppen aufgeteilt, immer runde Zahlen, zwanzig oder dreißig, ich weiß nicht mehr genau. Ein Unterführer zählte die Gruppen, die vor seinem Tisch vorbeigingen, und schrieb sie auf. Am ersten Tag haben wir bei genau 20 000 Schluss gemacht.« – »Und alle, die am Tisch vorbeigegangen sind, wurden der Sonderbehandlung unterzogen?« – »Im Prinzip, ja. Natürlich gelang es einigen, so zu tun … sagen wir, als ob, und dann im Schutz der Nacht zu fliehen. Aber das war höchstens eine Handvoll.« – »Und die kleinen Aktionen?« – »Sie wurden von einem Teilkommandoführer befehligt, der die Aufgabe hatte, zu zählen und das Ergebnis dem Kommandostab hochzureichen. Standartenführer Blobel bestand immer auf genauen Zählungen. Zu dem Fall, von dem Sie gesprochen haben – als wir mehr Juden erfassten, als ursprünglich dort lebten –, kann ich Ihnen, glaube ich, eine Erklärung liefern: Bei unserer Ankunft flohen viele Juden in den Wald oder die Steppe. Das Teilkommando verfuhr wie üblich mit denen, die es an Ort und Stelle vorfand, dann zog es ab. Aber die Juden konnten nicht in ihren Verstecken bleiben: Die Ukrainer jagten sie aus den Dörfern, und manchmal brachten die Partisanen sie um. So kehrten sie, vom Hunger getrieben, in ihre Städte und Dörfer zurück, oft mit anderen Flüchtlingen. Wenn uns das zu Ohren kam, führten wir eine zweite Operation durch, bei der wieder eine gewisse Anzahl beseitigt wurde. Aber dann kamen wieder neue. Einige Dörfer sind drei-, vier-, fünfmal für judenfrei erklärt worden, aber jedes Mal tauchten wieder andere auf.« – »Verstehe. Das ist eine interessante Erklärung.«– »Wenn ich Sie richtig verstehe«, meinte ich ein wenig verärgert, »glauben Sie, dass die Gruppen ihre Zahlen geschönt haben?« – »Um ehrlich zu sein, ja. Sicherlich aus verschiedenen Gründen, die Hoffnung auf Beförderung ist nur einer. Aber es existieren auch bürokratische Automatismen. In der Statistik erleben wir es häufig, dass sich Organisationen auf eine Zahl festlegen, niemand weiß genau, warum, und dann wird diese Zahl wieder aufgegriffen und als Tatsache weitergegeben, ohne im Laufe der Zeit der geringsten Kritik oder Veränderung unterworfen zu sein. Man nennt das eine ›Hausnummer‹. Doch das ist von Gruppe zu Gruppe und Kommando zu Kommando anders. Am schlimmsten war es ganz offensichtlich bei der Einsatzgruppe B. Aber es gibt auch grobe Unregelmäßigkeiten in einigen Kommandos der Gruppe D.« – »41 oder 42?« – »Vor allem 1941. Anfangs, dann auch auf der Krim.« – »Ich war kurz auf der Krim, hatte damals aber nichts mit den Aktionen zu tun.« – »Und Ihre Erfahrungen mit dem 4a?« Ich überlegte einen Augenblick, bevor ich antwortete: »Ich glaube, dass die Offiziere alle ehrlich waren. Doch zu Anfang ließ die Organisation zu wünschen übrig, da sind einige Zahlen vielleicht etwas willkürlich.« – »Es spielt sowieso keine große Rolle«, sagte Korherr

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