Die Wohlgesinnten
»Berndt hat etwas bei seinem Notar zu erledigen. Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht in Berlin bist, und hatte Lust, dich zu sehen.« – »Wie hast du mich gefunden?« – »Ein Freund von Berndt im OKW hat mit der Prinz-Albrecht-Straße telefoniert, dort hat man ihm gesagt, wo du wohnst. Was wollen wir machen?« – »Hast du Zeit?« – »Den ganzen Tag.« – »Dann lass uns nach Potsdam fahren. Wir gehen essen und im Park spazieren.«
Es war einer der allerersten schönen Tage des Jahres. Die Luft war mild, und die Bäume trieben unter einer noch blassen Sonne ihre Knospen. Im Zug sprachen wir kaum; sie wirkte distanziert, und um ehrlich zu sein, ich hatte große Angst. Das Gesicht dem Fenster zugewandt, betrachtete sie die vorbeifliegenden noch kahlen Bäume des Grunewalds; ich betrachtete ihr Gesicht. Unter dem schweren tiefschwarzen Haar erschien es fast durchscheinend, lange blaue Adern zeichneten sich deutlich unter der milchigen Haut ab. Eine begann an der Schläfe, berührte den Augenwinkel und überquerte dann in einer langen Krümmung, wie ein Schmiss, die Wange. Ich stellte mir das langsam pulsierende Blut unter dieser Oberfläche vor, die so dicht und tief war wie die opalisierenden Farben eines flämischen Meisters. Am Ansatz des Halses entsprang ein weiteres Netz von Adern, breitete sich über das zarte Schlüsselbein aus und verschwand unter ihrerStrickjacke, um, wie ich wusste, in der Form zweier offener Hände ihre Brüste mit Blut zu versorgen. Ihre Augen sah ich im Fenster gespiegelt, vor dem braunen Hintergrund der dicht stehenden Bäume, farblos, fern, abwesend. In Potsdam kannte ich ein kleines Restaurant in der Nähe der Garnisonskirche. Das Glockenspiel ließ sein kleines melancholisches Lied nach einer Mozartmelodie erklingen. Das Restaurant war geöffnet: »Goebbels’ fixe Ideen gelten nicht für Potsdam«, sagte ich; doch selbst in Berlin öffneten die meisten Restaurants bereits wieder. Ich bestellte Wein und fragte meine Schwester nach der Gesundheit ihres Mannes. »Es geht«, antwortete sie einsilbig. Sie waren nur für einige Tage in Berlin; dann wollten sie in ein Schweizer Sanatorium, wo Üxküll eine Kur machen sollte. Zögernd versuchte ich, etwas über ihr Leben in Pommern zu erfahren. »Ich kann mich nicht beklagen«, versicherte sie und sah mich mit ihren großen hellen Augen an. »Berndts Pächter liefern uns Lebensmittel, wir haben alles, was wir brauchen. Sogar Fisch bekommen wir. Ich lese viel und gehe spazieren. Der Krieg scheint sehr weit weg zu sein.« – »Er kommt näher«, sagte ich trocken. »Du glaubst doch nicht etwa, dass sie bis nach Deutschland kommen?« Ich zuckte die Achseln: »Alles möglich.« Unsere Worte blieben kalt, künstlich, ich bemerkte es, wusste aber nicht, wie ich diese Kälte überwinden sollte, die sie nicht zu kümmern schien. Wir tranken und aßen ein wenig. Schließlich sagte sie leise, vorsichtig: »Ich habe gehört, dass du verwundet worden bist. Berndt hat Freunde bei der Wehrmacht, die haben es uns erzählt. Wir leben zwar ziemlich zurückgezogen, halten aber Kontakt. Ich konnte keine Einzelheiten in Erfahrung bringen und habe mir Sorgen gemacht. Aber wenn ich dich jetzt so sehe, kann es ja nicht allzu schlimm gewesen sein.« Da erzählte ich ihr in nüchternen Worten, was geschehen war, und zeigte ihr das Loch. Sie ließ das Besteck fallen und wurde bleich; sie hobdie Hand, ließ sie aber wieder sinken. »Entschuldige. Das wusste ich nicht.« Mit den Fingern berührte ich ihren Handrücken; sie zog die Hand langsam zurück. Ich sagte nichts. Ich wusste auch gar nichts zu sagen: Alles, was ich ihr hätte sagen wollen, alles, was ich ihr hätte sagen müssen, konnte ich nicht sagen. Kaffee gab es nicht; wir beendeten unsere Mahlzeit, und ich zahlte. Potsdams Straßen waren ruhig: Soldaten, Frauen mit Kinderwagen, kaum Autos. Ohne zu reden, wandten wir uns in Richtung Park. Der Marlygarten, durch den wir hineingingen, verlängerte und vertiefte noch die Stille der Straßen; von Zeit zu Zeit sahen wir ein Pärchen oder einige rekonvaleszente Kriegsversehrte auf Krücken oder in Rollstühlen. »Das ist ja schrecklich«, murmelte Una. »Was für eine Vergeudung.« – »Es ist unumgänglich«, sagte ich. Sie antwortete nicht: Wir redeten noch immer aneinander vorbei. Zutrauliche Eichhörnchen huschten durchs Gras; rechts von uns holte sich eines Brotkrumen aus der Hand eines kleinen Mädchens, sprang ein Stück davon, kam zurück,
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