Die Wohlgesinnten
manchmal einsam fühlen.« Wieder sah sie mich lange an, bevor sie antwortete: »Ich brauche nichts.« Dieser Satz ließ mich innerlich erstarren. Wir fuhren mit dem Bus bis zum Bahnhof. Während wir auf den Zug warteten, kaufte ich mir den Völkischen Beobachter ; Una lachte, als sie mich mit der Zeitung zurückkommen sah. »Warum lachst du?« – »Ich musste an einen Witz von Berndt denken. Er nennt den VB das Verblödungsblatt .« Finster erwiderte ich: »Er sollte aufpassen, was er sagt.« – »Mach dir keine Sorgen. Er ist kein Dummkopf, und seine Freunde sind intelligente Menschen.« – »Ich mach mir keine Sorgen, ich warne dich nur, das ist alles.« Ich betrachtete die erste Seite: Abermals hatten die Briten Köln bombardiert, es hatte zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben. Ich zeigte ihr den Artikel: »Diese Luftmörder schämen sich wirklich nicht«, sagte ich. »Sie behaupten, die Freiheit zu verteidigen, und dann bringen sie Frauen und Kinder um.« – »Wir auch, wir bringen auch Frauen und Kinder um«, antwortete sie leise. Ihre Worte beschämten mich, doch augenblicklich verwandelte sich meine Scham in Wut: »Wir töten unsere Feinde, um unser Land zu verteidigen.« – »Auch sie verteidigen ihr Land.« – »Sie bringen unschuldige Zivilisten um!« Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, aber sie blieb ruhig. »Die Menschen, die ihr exekutiert, hatten auch nicht alle eine Waffe in der Hand, als sie gefasst wurden. Auch ihr habt Kinder getötet.« Die Wut erstickte mich, ich konnte es ihr nicht erklären; der Unterschied schien mir auf der Hand zu liegen, aber sie spielte die Eigensinnige, tat so, als verstünde sie es nicht. »Du nennst mich einen Mörder!«, rief ich aus. Sie nahm mich bei der Hand: »Aber nein. Beruhige dich.« Ich rauchte eine Zigarette, dann stiegen wir in den Zug. Wie auf der Hinfahrt schaute sie auf den vorbeifliegenden Grunewald,und während ich sie ansah, glitt ich, langsam zunächst, dann mit schwindelerregendem Tempo, in die Erinnerung an unsere letzte Begegnung ab. Das war 1934 gewesen, kurz nach unserem einundzwanzigsten Geburtstag. Endlich frei, hatte ich meiner Mutter angekündigt, dass ich Frankreich verlassen würde; auf der Reise nach Deutschland machte ich einen Umweg über Zürich; ich nahm ein Zimmer in einem kleinen Hotel und suchte Una auf, die dort studierte. Sie war überrascht, mich zu sehen. Trotzdem wusste sie bereits über den Auftritt in Paris mit Moreau und meiner Mutter und über meine Entscheidung Bescheid. Ich führte sie zum Abendessen in ein recht bescheidenes, aber ruhiges Restaurant. Es gefalle ihr in Zürich, erklärte sie mir, sie habe Freunde und Jung sei ein fantastischer Mensch. Bei diesen letzten Worten sträubte sich alles in mir, es musste etwas in ihrem Ton gewesen sein, aber ich sagte nichts. »Und du?«, fragte sie mich. Da berichtete ich ihr von meinen Hoffnungen, meiner Immatrikulation in Kiel, auch von meinem Eintritt in die NSDAP (der bereits auf meine zweite Reise nach Deutschland im Jahr 1932 zurückging). Sie hörte mir zu, während sie dem Wein zusprach; ich trank auch, aber langsamer. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Begeisterung für diesen Hitler teile«, meinte sie. »Er kommt mir neurotisch vor, voller ungelöster Komplexe, Frustrationen und gefährlicher Ressentiments.« – »Wie kannst du so was sagen!« Ich erging mich in einer langen Tirade. Doch ihr Gesicht wurde missmutig und verschlossen. Ich verstummte, während sie sich ein neues Glas einschenkte, und ergriff ihre Hand auf dem karierten Tischtuch. »Una, das ist das, was ich tun will, was ich tun muss. Unser Vater ist Deutscher. Meine Zukunft ist Deutschland, nicht das verkommene französische Bürgertum.« – »Vielleicht hast du Recht. Aber ich habe Angst, dass du bei diesen Menschen deine Seele verlierst.« Der Zorn trieb mir das Blut ins Gesicht, ich schlug auf den Tisch. »Una!« Eswar das erste Mal, dass ich in diesem Ton mit ihr sprach. Durch die Erschütterung fiel ihr Glas um, rollte über den Tisch, zersprang zu ihren Füßen und hinterließ eine Rotweinpfütze. Ein Kellner kam mit Scheuertuch und Besen herbeigelaufen, und Una, die bis dahin mit gesenktem Blick dagesessen hatte, schaute mich an. Ihr Blick war klar, fast durchscheinend. »Weißt du, ich habe endlich Proust gelesen. Erinnerst du dich an diese Stelle über die zerbrochene Vase?« Klopfenden Herzens zitierte ich: » Sie soll etwas sein wie im Tempel das
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