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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Fuße der Kathedrale, versperrte mir eine Kapelle, deren Flachreliefs sie wie ein dunkles Band umliefen, die Sicht auf den Hauptplatz. Ein Mann in deutscher Uniform ging langsam an ihr entlang und schaute sich die verschlungenen Skulpturen eingehend an. Er bemerkte mich und kam auf mich zu; ichsah seine Schulterstücke, stand rasch auf und grüßte. Er erwiderte meinen Gruß. »Guten Tag! Sie sind Deutscher?« – »Ja, Herr Hauptmann.« Er holte ein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Stirn. »Sehr schön. Erlauben Sie, dass ich Platz nehme?« – »Selbstverständlich, Herr Hauptmann.« Die Kellnerin tauchte wieder auf. »Trinken Sie den Kaffee mit oder ohne Zucker? Sonst gibt es hier nichts.« – »Mit Zucker bitte.« Ich gab ihr zu verstehen, dass wir noch zwei Tassen Kaffee wünschten, den Zucker aber separat. Dann setzten wir uns. Der Hauptmann reichte mir die Hand: »Hans Koch. Ich bin bei der Abwehr.« Ich stellte mich ebenfalls vor. »Oh, Sie sind beim SD? Stimmt, ich habe gar nicht auf Ihr Ärmelabzeichen geachtet. Umso besser, umso besser.« Der Hauptmann wirkte recht sympathisch: Er mochte knapp über fünfzig sein, trug eine Brille mit runden Gläsern und hatte einen Bauchansatz. Er sprach mit österreichischer Färbung, aber kein Wienerisch. »Kommen Sie aus der Ostmark, Herr Hauptmann?« – »Ja, aus der Steiermark. Und Sie?« – »Mein Vater stammt eigentlich aus Pommern. Doch ich bin im Elsass geboren. Dann haben wir mal hier, mal dort gewohnt.« – »Verstehe, verstehe. Machen Sie gerade einen Spaziergang?« – »Gewissermaßen, ja.« Er nickte: »Ich bin wegen einer Besprechung hier. Da nebenan, nachher.« – »Eine Besprechung, Herr Hauptmann?« – »In der Einladung hieß es, es sei eine kulturelle Veranstaltung, doch ich glaube, es wird eher um politische Dinge gehen.« Er beugte sich vor, als wolle er mich in ein Geheimnis einweihen: »Mich haben sie ausgeguckt, weil sie mich für einen Fachmann in ukrainischen Fragen halten.« – »Sind Sie es denn nicht?« Er fuhr heftig zurück: »Überhaupt nicht! Ich bin Theologieprofessor. Ich kenne mich ein wenig in der Frage der unierten Kirche aus, aber das ist alles. Man hat mich wohl eingeladen, weil ich schon im kaiserlichen Heer gedient habe. Während des Weltkriegs war ich Leutnant, verstehen Sie, da hat man sich wahrscheinlichgedacht, dass ich mich mit dem Nationalitätenproblem auskenne; aber ich war damals an der italienischen Front, und auch da nur bei der Verwaltung. Immerhin hatte ich kroatische Kameraden …« – »Sprechen Sie Ukrainisch?« – »Kein Sterbenswörtchen. Ich habe jedoch einen Übersetzer bei mir. Er trinkt gerade mit den Leuten von der OUN, da auf dem Platz.« – »Der OUN?« – »Ja. Wissen Sie nicht, dass die heute früh die Macht ergriffen hat? Jedenfalls haben sie den Rundfunk besetzt. Und eine Proklamation zur Erneuerung des ukrainischen Staates aufgesetzt, falls ich das recht verstanden habe. Deshalb muss ich nachher zu dieser Versammlung. Der Metropolit soll den neuen Staat gesegnet haben. Offenbar haben wir ihn darum gebeten, doch ich bin nicht auf dem Laufenden.« – »Welcher Metropolit?« – »Der unierte natürlich. Die Orthodoxen hassen uns. Sie hassen auch Stalin, aber uns hassen sie ganz besonders.« Ich wollte noch eine Frage stellen, wurde aber abrupt unterbrochen: Eine etwas fette Frau, fast nackt, mit zerrissenen Strümpfen, kam schreiend hinter der Kirche hervorgestürmt; sie stürzte sich zwischen die Tische, stolperte, warf einen um und fiel kreischend der Länge nach vor uns auf den Boden. Ihre weiße Haut war mit blauen Flecken übersät, aber sie blutete kaum. Gemächlich folgten ihr zwei große Kerle mit Armbinden. Einer von ihnen wandte sich in gebrochenem Deutsch an uns: »Entschuldigen, Offizieren. Kein Problem.« Der andere zog die Frau an den Haaren hoch und versetzte ihr einen Faustschlag in den Bauch. Sie schluchzte auf und verstummte, mit Speichel auf den Lippen. Der erste versetzte ihr einen Fußtritt in den Hintern, und sie lief wieder los. Sie trabten lachend hinter ihr her und verschwanden hinter der Kapelle. Koch zog seine Mütze vom Kopf und wischte sich wieder mit dem Taschentuch über die Stirn, während ich den umgestürzten Tisch aufrichtete. »Was für Barbaren sind das hier!«, sagte ich. »Oh ja, das finde ich auch. Aber ich dachte, ihr hättet sie dazuangestiftet?« – »Das würde mich wundern, Herr Hauptmann. Allerdings bin ich gerade erst

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