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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Vorgesetzten Dr. Best, der für mich auch so etwas wie ein Mentor beim SD war. Theoretisch brauchten wir uns vor dem Krieg nicht zu fürchten, versicherte er; der Krieg ergebe sich logisch aus der Weltanschauung. Er zitierte Hegel und Jünger, argumentierte, der Staat könne seine ideale Einheit nur im Krieg und durch ihn gewinnen: »Wenn das Individuum die Negation des Staates ist, so ist der Krieg die Negation dieser Negation. Der Krieg ist das Ereignis, das ein für alle Mal die kollektive Existenz des Volkes konstituiert.« Doch höheren Orts hatte man prosaischere Sorgen. In Ribbentrops Ministerium, in der Abwehr, in unserer eigenen auswärtigen Abteilung schätzte jeder die Lage auf seine Weise ein. Eines Tages wurde ich zum Chef , das heißt zu Reinhard Heydrich, befohlen. Es war das erste Mal, und ich empfand Erregung und Beklommenheit zugleich, als ich in sein Arbeitszimmer trat. Hochkonzentriert war er in einen Stapel Berichte vertieft, und ich blieb mehrere Minuten in Habachtstellung stehen, bevor er mir ein Zeichen gab, mich zu setzen. Ich hatte genug Zeit, ihn aus der Nähe zu betrachten. Natürlich hatte ich ihn schon mehrfach bei Dienstbesprechungen oder in den Gängen des Prinz-Albrecht-Palais gesehen; doch während er aus der Ferne geradezu als ideale Verkörperung des nordischen Übermenschen erschien, wirkten seine Züge aus der Nähe merkwürdig verschwommen.Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass es an den Proportionen liegen müsse: Unter der außergewöhnlich hohen und gewölbten Stirn waren der Mund zu breit und die Lippen zu voll für das schmale Gesicht; die Hände wirkten zu lang, wie unruhige, an seinen Armen befestigte Algen. Als er schließlich den Kopf hob, um mich aus seinen allzu eng stehenden kleinen Augen anzusehen, bewegten die sich hin und her; und als er endlich das Wort an mich richtete, schien mir seine Stimme viel zu hoch für einen Mann von so mächtiger Statur. Er machte auf mich einen verwirrend effeminierten Eindruck, was ihn nur noch unheimlicher wirken ließ. Seine Sätze kamen rasch, knapp, bestimmt; er beendete sie fast nie, doch blieb ihr Sinn stets klar und deutlich. »Ich habe einen Auftrag für Sie, Dr. Aue.« Der Reichsführer sei mit den Berichten unzufrieden, die er über die Absichten der Westmächte erhalte. Er verlange eine weitere Lagebeurteilung, unabhängig von der des Auswärtigen Amts. Alle Welt wisse, dass es in jenen Ländern eine starke pazifistische Strömung gebe, vor allem in nationalistischen und mit dem Faschismus sympathisierenden Kreisen; schwer einzuschätzen blieb jedoch deren Einfluss auf die Regierungen. »Offenbar kennen Sie sich in Paris gut aus. Aus Ihrer Personalakte geht hervor, dass Sie in Kreisen verkehrt haben, die der Action Française nahestanden. Diese Leute haben inzwischen an Bedeutung gewonnen.« Ich versuchte etwas einzuwerfen, doch Heydrich ließ mich nicht zu Wort kommen: »Es geht um Folgendes.« Er wollte, dass ich nach Paris ging und zu meinen alten Bekannten wieder Kontakt aufnahm, um mir ein Bild vom tatsächlichen politischen Gewicht der pazifistischen Zirkel zu machen. Ich sollte vorgeben, nach Beendigung meiner Studien Urlaub zu machen. Natürlich sollte ich jedem, der es hören wollte, versichern, dass das nationalsozialistische Deutschland gegenüber Frankreich nur die friedlichsten Absichten hege. »Dr. Hauser wirdSie begleiten. Doch Sie werden gesondert Bericht erstatten. Standartenführer Taubert wird Ihnen Devisen und die nötigen Papiere aushändigen. Noch Fragen?« Eigentlich fühlte ich mich der Sache überhaupt nicht gewachsen, doch er hatte mich überrumpelt. »Zu Befehl, Gruppenführer«, war alles, was ich herausbrachte. »Gut. Ende Juli sind Sie zurück. Wegtreten.«
    Ich hatte Thomas aufgesucht, froh, dass er mit von der Partie war: Als Student hatte er mehrere Jahre in Frankreich verbracht, sein Französisch war ausgezeichnet. »He, was machst du denn für ein Gesicht?«, rief er aus, als er mich sah. »Du solltest froh sein. Immerhin hast du einen Auftrag bekommen, das ist doch was.« Plötzlich wurde mir bewusst, dass es sich wirklich um einen unverhofften Glücksfall handelte. »Du wirst sehen. Wenn wir Erfolg haben, öffnen sich viele Türen. Die Dinge werden bald in Bewegung geraten, und wer seine Chance zu nutzen weiß, dem werden alle Möglichkeiten offenstehen.« Er war bei Schellenberg gewesen, der in auswärtigen Angelegenheiten als einflussreichster Berater Heydrichs galt;

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