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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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sie mit einem Wortschwall, den ich nicht verstand, dann wandte er sich an mich: »Ich habe ihnen gesagt, dass Sie ihnen befohlen haben aufzuhören. Ich habe ihnen gesagt, dass Kirchen heilig sind und dass sie Lumpen sind und dass Kirchen unter dem Schutz der Wehrmacht stehen und dass sie verhaftet werden, wenn sie nicht weggehen.« – »Ich bin ganz allein«, sagte ich. »Das macht nichts«, erwiderte der Priester. Er brüllte noch ein paar Sätze auf Ukrainisch. Langsam senkten die Männer ihre Knüppel. Einer von ihnen richtete eine leidenschaftliche Ansprache an mich, von der ich nur die Wörter »Stalin«, »Galizien« und »Juden« verstand. Ein anderer spuckte auf die Leiber. Es folgte ein langer Augenblick der Ungewissheit und des Zögerns; der Priester brüllte noch einige Wörter; da ließen die Männer von den Juden ab, gingen hintereinander zur Straße hoch, ohne ein Wort zu sagen, und verschwanden in ihr. »Danke«, sagte der Priester zu mir, »danke.« Er lief zu den Juden, um nach ihnen zu sehen. Der Hof hatte ein leichtes Gefälle: Im tiefer gelegenen Teil war ein schöner schattiger Säulengang mit grünem Kupferdachan die Kirche angebaut. »Helfen Sie mir«, sagte der Priester. »Der hier lebt noch.« Er hob ihn unter den Achseln an, und ich nahm ihn bei den Füßen; ich sah, dass es ein junger Mann war, noch fast bartlos. Sein Kopf fiel nach hinten, ein Blutrinnsal lief an seinen Schläfenlocken entlang und hinterließ auf den Steinplatten eine Linie von großen glänzenden Tropfen. Ich hatte heftiges Herzklopfen: Auf diese Weise hatte ich noch nie einen Sterbenden getragen. Wir mussten um die Kirche herumgehen, der Priester ging rückwärts und schimpfte dabei auf Deutsch: »Zuerst die Bolschewisten, jetzt die verrückten Ukrainer. Warum tut eure Armee nichts?« Hinten öffnete sich ein großer Torbogen auf einen Hof und dann auf das Kirchenportal. Ich half dem Priester, den Juden in die Vorhalle zu bringen und ihn auf eine Bank zu legen. Er rief etwas; zwei Männer, düster und bärtig wie der Geistliche, aber in Anzügen, tauchten aus dem Kirchenschiff auf. In einer fremden Sprache, die in nichts der ukrainischen, russischen oder polnischen ähnelte, richtete er das Wort an sie. Die drei gingen zusammen wieder in den Eingangshof hinaus; einer von ihnen entfernte sich durch eine Allee, während die beiden anderen zu den Juden zurückkehrten. »Ich habe ihn gebeten, einen Arzt zu holen«, sagte der Priester. »Was ist das hier?«, fragte ich ihn. Er blieb stehen und blickte mich an: »Das ist die armenische Kathedrale.« – »In Lemberg gibt es Armenier?«, fragte ich erstaunt. Er zuckte die Achseln. »Schon viel länger als Deutsche oder Österreicher.« Sein Freund und er schickten sich an, einen anderen Juden fortzutragen, der leise stöhnte. Das Blut der Juden rann langsam über die Steinplatten des abschüssigen Hofes zum Säulengang hinab. Unter den Bögen sah ich Grabsteine mit rätselhaften Schriftzeichen, sicher auf Armenisch, die in die Mauer oder in den Boden eingelassen waren. Ich trat näher: Die eingemeißelten Zeichen der Grabplatten füllten sich mit Blut. Ich wandte mich rasch ab. Ich fühlte mich beklommen undhilflos und zündete mir eine Zigarette an. Im Säulengang war es kühl. Im Hof schien die Sonne auf die frischen Blutlachen und die Kalksteinplatten, auf die schlaffen Leiber der Juden, auf ihre Anzüge aus grobem, blutgetränktem schwarzem oder braunem Tuch. Fliegen kreisten um ihre Köpfe und ließen sich auf ihren Wunden nieder. Der Priester kehrte zurück und blieb neben ihnen stehen. »Und die Toten?«, wandte er sich an mich. »Die können wir doch nicht hierlassen.« Doch ich hatte nicht die geringste Lust, ihm zu helfen; ich ekelte mich bei der Vorstellung, einen dieser leblosen Körper zu berühren. Ich ging um sie herum auf das Portal zu und trat auf die Straße hinaus. Sie war leer, aufs Geratewohl wandte ich mich nach links. Die Straße endete in einer Sackgasse; doch rechts kam ich auf einen Platz, der beherrscht wurde von einer gewaltigen Barockkirche mit Rokoko-Ornamenten, einem hohen Säulenportal und gekrönt von einer kupfernen Kuppel. Ich stieg die Stufen hinauf und betrat sie. Das weitgespannte Gewölbe des Kirchenschiffes hoch oben ruhte leicht auf schmalen gedrehten Säulen, das Tageslicht flutete durch die Fenster, glänzte auf den mit Blattgold belegten Holzskulpturen. Die dunklen Bankreihen zogen sich, blank und leer, durch den ganzen Innenraum. In

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