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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Obergruppenführer Jeckeln telefoniert. Doch ich bin sicher, dass Ihr Bericht ihn interessieren wird.« – »Gut. Ich warte.« – »Nicht nötig, zwei Stunden wird es mindestens noch dauern. Sie sollten sich die Stadt ansehen. Vor allem die Altstadt, es lohnt sich.« – »Die Leute scheinen mir sehr erregt«, meinte ich. »Oh ja, allerdings! Das NKWD hat in den Gefängnissen noch dreitausend Menschen ermordet, bevor es sich aus dem Staub machte. Und dann sind alle ukrainischen und galizischen Nationalisten aus den Wäldern – oder Gott weiß, wo sie sich versteckt hielten – hervorgekrochen, und die haben eine ziemliche Wut im Bauch. Werden es den Juden gehörig heimzahlen.« – »Und die Wehrmacht schaut untätig zu?« Er zwinkerte mir vielsagend zu: »Befehl von oben , Obersturmführer. Der Volkszorn rechnet mit den Verrätern und Kollaborateuren ab. Eine innere Angelegenheit, die uns nichts angeht. Also, bis später.« Er verschwand in einem Büro, und ich verließ das Gebäude. Die Schießereien im Zentrum hörten sich an wie das Krachen von Knallfröschen auf einer Kirmes. Ich ließ Höfler und Popp beim Opel zurück und ging zu Fuß zum Boulevard in der Stadtmitte. Unter den Kolonnaden herrschte Ausgelassenheit, die Türen und Fenster der Cafés standen weit offen, die Leute tranken und johlten, Hände streckten sich mir entgegen, die ich im Vorbeigehen schüttelte, fröhlich reichte ein Mann mir ein Glas Champagner, ich leerte es, und bevor ich es ihm zurückgeben konnte, war er verschwunden. Als wäre Karneval, stolzierten in der Menge immer noch Männer in Theaterkostümen umher,einige trugen sogar Masken, spaßige, grausige oder groteske. Ich durchquerte den Park; auf der anderen Seite begann die Altstadt, die einen gänzlich anderen Eindruck machte als der österreichisch-ungarische Boulevard. Hier drängten sich schmale hohe Häuser aus der Spätrenaissance mit spitzen Dächern und einstmals bunten, jetzt aber verblassenden Fassaden, an denen barocke Schmuckelemente aus Stein prangten. In diesen Gassen waren viel weniger Menschen. Im Schaufenster eines geschlossenen Ladens hing ein makabres Plakat mit einem vergrößerten Foto von Leichen und einer kyrillischen Aufschrift; mehr als die Wörter »Ukraine« und »Jidden« konnte ich nicht entziffern. Ich kam an einer schönen großen Kirche vorbei, vermutlich katholisch; sie war geschlossen, und niemand reagierte, als ich klopfte. Aus einer offenen Tür weiter unten in der Straße drang das Geräusch von zerbrechendem Glas, Schlägen, Schreien; ein Stück weiter lag die Leiche eines Juden, mit dem Gesicht im Rinnstein. Kleine Gruppen Bewaffneter mit blau-gelben Armbinden palaverten mit Zivilisten; ab und zu betraten sie ein Haus, dann ertönte wieder Lärm, manchmal Schüsse. Vor mir brach plötzlich ein Mann durch das geschlossene Fenster eines der oberen Stockwerke und landete fast vor meinen Füßen, inmitten eines Scherbenregens; ich musste zurückspringen, um nicht von Glassplittern getroffen zu werden. Ganz deutlich hörte ich den heftigen Aufschlag seines Nackens beim Aufprall auf das Pflaster. Ein Mann, in Hemdsärmeln und mit Mütze, lehnte sich aus dem zertrümmerten Fenster; als er mich sah, rief er mir in gebrochenem Deutsch fröhlich zu: »Entschuldigung, Herr deutschen Offizier ! Ich Sie nicht gesehen.« Ich bekam es mit der Angst zu tun, ging um die Leiche herum und setzte meinen Weg schweigend fort. Ein kleines Stück weiter tauchte in einem Portal am Fuße eines hohen alten Turms ein bärtiger Mann im Priestergewand auf; als er mich bemerkte, lief er auf mich zu: »Herr Offizier!Herr Offizier! Kommen Sie, kommen Sie, ich bitte Sie.« Sein Deutsch war besser als das des Mannes am Fenster, doch hatte er einen wunderlichen Akzent. Fast mit Gewalt zog er mich zum Portal. Ich hörte Schreie, ein wildes Gebrüll und Geheul; im Hof der Kirche schlug eine Gruppe von Männern erbarmungslos mit Knüppeln und Eisenstangen auf am Boden liegende Juden ein. Einige Körper rührten sich nicht mehr unter den Schlägen, andere zuckten noch. »Herr Offizier«, rief der Priester, »so tun Sie doch etwas, ich bitte Sie! Das hier ist eine Kirche.« Unschlüssig blieb ich am Portal stehen; der Priester versuchte mich am Arm zu ziehen. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Einer der Ukrainer bemerkte mich und sagte etwas zu seinen Kumpanen, wobei er mit dem Kopf in meine Richtung deutete; sie zögerten, hörten auf zu schlagen; der Priester überschüttete

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