Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
Farben der Maler waren, nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem ihren hatten, so war es doch ihr Körper, den ich erahnte, ihre Brüste, ihr Bauch, ihre Hüften, rein, über den Knochen gestrafft oder leicht geschwellt und den einzigen Lebensquell umschließend, der mir je zugänglich gewesen war. Wütend verließ ich das Museum, aber das genügte nicht mehr, jede Frau, die mir über den Weg lief oder die ich hinter einem Fenster lachen sah, löste die gleichen Empfindungen in mir aus. In jedem Café, an dem ich vorbeikam, trank ich ein Glas, doch je mehr ich trank, desto klarer schien ich zu werden, meine Augen öffneten sich, und die Welt stürzte hinein, brüllend, blutend, gefräßig, und sie füllte mir den Kopf mit Stimmungen und Exkrementen. Mein Scheitelauge, diese klaffende Vagina mitten auf meiner Stirn, tauchte diese Welt in ein blendendes, trostloses, unbarmherziges Licht und gestattete mir, jeden Schweißtropfen, jeden Aknepickel, jedes schlecht rasierte Härchen auf den grellen Gesichtern zu erkennen, die mich wie ein Gefühl ansprangen, wie der Schrei grenzenloser Angst des Kindes, das auf ewigim grässlichen Körper eines Erwachsenen gefangen ist, eines Erwachsenen, der ungeschickt und ohnmächtig ist, selbst wenn er tötet, um sich dafür zu rächen, dass er lebt. Endlich, es war schon spät in der Nacht, sprach mich ein Bursche in einem Bistro an und bat um eine Zigarette: Das bot mir vielleicht Gelegenheit, für einige Augenblicke in Vergessenheit zu tauchen. Er war einverstanden, mit mir aufs Zimmer zu gehen. Noch einer, sagte ich mir, während wir die Treppe hinaufstiegen, noch einer, aber es werden nie genug sein. Jeder von uns zog sich auf einer Seite des Bettes aus; groteskerweise behielt er Socken und Uhr an. Ich forderte ihn auf, mich im Stehen zu nehmen, ich stand, auf die Kommode gestützt, dem schmalen Spiegel gegenüber, der das Zimmer beherrschte. Als die Lust mich packte, behielt ich die Augen offen, ich durchforschte mein purpurfarbenes und hässlich geschwollenes Gesicht, wollte in ihm das wahre Gesicht erblicken, das Gesicht, das meine Züge von innen erfüllte, das Gesicht meiner Schwester. Doch da geschah etwas Erstaunliches: Zwischen diese beiden Gesichter und ihre vollkommene Verschmelzung schob sich ein anderes Gesicht, glatt, durchscheinend wie eine hauchdünne Glasplatte, das abweisende ruhige Gesicht unserer Mutter, unendlich fein, aber doch undurchsichtig, dichter als die dickste Mauer. Von rasender Wut gepackt, brüllte ich auf und zertrümmerte den Spiegel mit einem Faustschlag; erschrocken sprang der Junge zurück und fiel aufs Bett, wo er in langen Schüben kam. Auch ich kam, aber reflexhaft, ohne es zu spüren und bereits wieder erschlaffend. Aus den Fingern tropfte mir Blut auf den Boden. Ich ging ins Badezimmer, spülte mir die Hand ab, zog einen Glassplitter heraus und umwickelte sie mit einem Handtuch. Als ich wieder herauskam, zog sich der Junge sichtlich besorgt an. Ich griff in die Hosentasche und warf ihm einige Geldscheine aufs Bett: »Hau ab!«. Er schnappte sich das Geld und machte sich still davon. Ich wollte michhinlegen, aber vorher sammelte ich sorgfältig die Glassplitter auf, warf sie in den Papierkorb und suchte den Fußboden ab, um sicherzugehen, keine übersehen zu haben, dann rieb ich die Blutstropfen ab und wusch mich. Endlich konnte ich mich hinlegen; aber das Bett war ein Kruzifix, eine Folterbank. Was hatte die läufige Hündin hier zu suchen? Hatte ich ihretwegen nicht schon genug gelitten? Musste sie mich aufs Neue verfolgen? Ich hockte mich im Schneidersitz aufs Laken, rauchte eine Zigarette nach der anderen und dachte nach. Der fahle Schein einer Straßenlaterne sickerte durch die geschlossenen Läden. Mein panisches, kopfloses Denken hatte sich in den altbekannten heimtückischen Mörder verwandelt; wie ein neuer Macbeth schnitt es meinem Schlaf die Kehle durch. Als wäre ich ständig kurz davor, etwas zu verstehen, doch das Verständnis blieb immer außer Reichweite meiner zerschnittenen Finger, machte sich über mich lustig und zog sich unmerklich in dem Maße zurück, in dem ich vorankam. Schließlich ließ sich ein Gedanke fassen: Ich betrachtete ihn mit Abscheu, aber da kein anderer seinen Platz einnehmen wollte, musste ich ihm schließlich sein Recht zugestehen. Ich legte ihn auf den Nachttisch wie eine alte schwere Münze: Wenn ich mit dem Fingernagel dagegenschlug, klang sie echt, doch wenn ich sie auf Kopf oder Zahl hochwarf,

Weitere Kostenlose Bücher