Die Wohlgesinnten
zeigte sie immer nur das gleiche, unbewegte Gesicht.
Früh am Morgen zahlte ich die Rechnung und nahm den ersten Zug nach Süden. Franzosen mussten ihre Plätze Tage oder sogar Wochen im Voraus reservieren; doch die Abteile für Deutsche waren stets halb leer. Ich fuhr bis Marseille, an die Grenze der deutschen Zone. Der Zug hielt oft; wie in Russland waren auf den Bahnhöfen Bauern eifrig bemüht, den Reisenden Lebensmittel zu verkaufen, hart gekochteEier, Hähnchenschenkel, gekochte und gesalzene Kartoffeln; wenn ich Hunger hatte, ließ ich mir aufs Geratewohl etwas durchs Fenster reichen. Ich las nicht, sondern blickte zerstreut auf die vorbeiziehende Landschaft und betastete meine aufgeschürften Fingerknöchel; meine Gedanken schweiften umher, losgelöst von Vergangenheit wie Gegenwart. In Marseille ging ich zur Gestapostelle , um mich nach den Bedingungen für eine Reise in die italienische Zone zu erkundigen. Ein junger Obersturmführer nahm mich in Empfang: »Die Beziehungen sind im Augenblick etwas angespannt. Die Italiener zeigen wenig Verständnis für unsere Bemühungen, die Judenfrage zu lösen. Ihre Zone ist zu einem regelrechten Paradies für Juden geworden. Als wir sie aufgefordert haben, die Juden wenigstens zu internieren, haben sie sie in ihren schönsten Wintersportorten in den Alpen untergebracht.« Doch die Probleme dieses Obersturmführers kümmerten mich nicht. Ich erklärte ihm mein Anliegen: Er machte ein besorgtes Gesicht, aber ich versicherte ihm, dass ich ihn von aller Verantwortung entbinde. Schließlich erklärte er sich bereit, mir ein Schreiben aufzusetzen, in dem er die italienischen Behörden bat, mir bei meiner aus persönlichen Gründen unternommenen Reise behilflich zu sein. Es war spät, und ich nahm am Vieux Port ein Zimmer für die Nacht. Am nächsten Morgen stieg ich in einen Bus nach Toulon. An der Demarkationslinie ließen uns die Bersaglieri mit ihren ulkigen Federhüten passieren, ohne uns zu kontrollieren. In Toulon stieg ich in einen anderen Bus um, und dann noch einmal in Cannes; am Nachmittag kam ich schließlich in Antibes an. Ich stieg auf dem großen Platz aus; meinen Kleidersack auf der Schulter, umging ich Port Vauban, kam an der geduckten Masse des Fort Carré vorbei und begann die Uferstraße wieder hinaufzugehen. Eine leichte salzige Brise wehte von der Bucht her, kleine Wellen beleckten den Sandstrand, die Möwenschreie übertönten die Brandung und dasGeräusch der wenigen Autos; abgesehen von einigen italienischen Soldaten, war der Strand leer. In meiner Zivilkleidung wurde ich von niemandem beachtet: Ein italienischer Polizist sprach mich an, aber nur, um mich um Feuer zu bitten. Das Haus lag einige Kilometer von der Ortsmitte entfernt. Ich ging gemächlich, ich hatte es nicht eilig; der Anblick und der Geruch des Mittelmeers ließen mich gleichgültig, aber ich spürte keine Angst mehr, ich blieb ruhig. Schließlich erreichte ich den Weg, der zum Grundstück führte. Der leichte Wind spielte in den Zweigen der Pinien, die ihn säumten, und ihr Geruch mischte sich mit dem des Meeres. Das Gittertor, dessen Farbe abblätterte, stand halb offen. Eine lange Allee führte quer durch einen schönen, mit Schwarzkiefern bestandenen Park; ich folgte ihr nicht, sondern schlich an der Innenseite der Mauer bis zum Ende des Parks; dort zog ich mich aus und legte meine Uniform an. Sie war in meinem Kleidersack zerknittert, ich glättete sie mit der Hand, das musste reichen. Der Sandboden zwischen den weit auseinanderstehenden Bäumen war mit einem Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt. Hinter den hochgewachsenen schlanken Stämmen zeichnete sich die ockerfarbene Seitenwand und Terrasse des Hauses ab; jenseits der Einfassungsmauer blinzelte die Sonne zwischen den wogenden Baumwipfeln hindurch. Ich ging zum Gittertor zurück und schritt die Allee entlang; an der Vordertür klingelte ich. Rechts von mir, zwischen den Bäumen, hörte ich unterdrücktes Lachen: Ich schaute mich um, sah aber nichts. Dann rief eine Männerstimme von der anderen Seite des Hauses: »Hallo! Hierher!« Ich erkannte Moreaus Stimme sofort. Er wartete vor dem Eingang des Salons, am Fuße der Terrasse, eine erkaltete Pfeife in der Hand; er trug eine alte Strickweste und eine Fliege und kam mir bemitleidenswert alt vor. Er runzelte die Stirn, als er meine Uniform sah: »Was wünschen Sie? Wen suchen Sie?« Ich trat näher und nahm meine Mütze ab: »Erkennen Sie mich nicht?«Er riss die Augen auf und
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