Die Wohlgesinnten
deterministisch (ich glaube, ich habe bereits darauf hingewiesen) und gelangten zu ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der anzuwendenden Mittel. Bei Licht besehen, lässt sich daraus schließen, dass dieser Wille, oder zumindest diese Fähigkeit, die Notwendigkeit radikaler Lösungen für die alle Gesellschaften heimsuchenden Probleme anzuerkennen, nur aus unserer Niederlage im Ersten Weltkrieg zu erklären ist. Alle Länder (abgesehen vielleicht von den Vereinigten Staaten) haben gelitten; aber der Sieg – und der Hochmut sowie die moralische Selbstgerechtigkeit,die aus ihm erwuchsen – haben sicherlich dazu geführt, dass die Engländer, Franzosen und selbst die Italiener ihr Leiden und ihre Verluste leichter verschmerzen und wieder zur Normalität zurückkehren konnten, nicht ohne sich manchmal in ihrer Selbstzufriedenheit zu aalen, was aber auch zur Folge hatte, dass sie leichter in Schrecken zu versetzen waren, aus Furcht, diesen zerbrechlichen Kompromiss zu gefährden. Wir hingegen, wir hatten nichts mehr zu verlieren. Wir hatten uns ebenso ehrenhaft geschlagen wie unsere Feinde; wir wurden wie Verbrecher behandelt; wir wurden gedemütigt und zerstückelt, unsere Toten wurden verhöhnt. Und das Schicksal der Russen war, objektiv betrachtet, kaum besser. Was liegt da näher, als sich zu sagen: Na gut, wenn es denn so ist, wenn es denn gerecht ist, die Besten der Nation zu opfern, die Patriotischsten, Intelligentesten, Opferbereitesten, Treuesten unserer Rasse in den Tod zu schicken und das alles zum Wohle des Vaterlandes – und wenn das alles zu nichts führt – wenn man auf ihr Opfer spuckt –, was für ein Recht auf Leben haben dann die schlimmsten Elemente, die Verbrecher, die Irrsinnigen, die Schwachsinnigen, die Asozialen und die Juden, von unseren äußeren Feinden ganz zu schweigen? Ich bin überzeugt, dass die Bolschewisten ebenso argumentiert haben. Da es uns nichts genützt hatte, die Regeln der angeblichen Menschlichkeit zu respektieren, wozu dann weiter auf diesem Respekt beharren, für den man uns noch nicht einmal Dank gewusst hatte? Daraus ergab sich unvermeidlich ein viel strengerer, viel härterer, viel radikalerer Versuch zur Lösung unserer Probleme. In allen Gesellschaften galt es zu allen Zeiten, in Hinblick auf die sozialen Probleme einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Allgemeinheit und den Rechten des Einzelnen zu finden, und die Zahl möglicher Lösungen war alles in allem sehr begrenzt: Im Grunde blieben nur der Tod, die Barmherzigkeit oder die Ausgrenzung (historischvor allem in Form der Verbannung). Die Griechen setzten ihre missgebildeten Kinder aus; die Araber, die einsahen, dass diese Kinder eine zu große wirtschaftliche Belastung für ihre Familien darstellten, sie aber nicht töten wollten, gaben sie in die Obhut der Gemeinschaft, wobei ihnen der Zakat half, die obligate Almosenspende (eine steuerähnliche Armenabgabe); noch heute gibt es bei uns spezielle Einrichtungen für solche Fälle, damit sich die Gesunden nicht durch den Anblick dieses Elends gestört fühlen. Wenn man sich nun eine solche Sicht zu eigen macht, zeigt sich, dass ab dem 18. Jahrhundert, zumindest in Europa, all die einzelnen Lösungen für die verschiedenen Probleme – die Folter für Missetäter, die Verbannung ansteckender Kranker (Leprainseln), die christliche Barmherzigkeit für Schwachsinnige – unter dem Einfluss der Aufklärung auf einen einzigen Lösungstyp hinausliefen, der in allen Fällen anwendbar war und sich nach Belieben deklinieren ließ: die staatlich finanzierte Unterbringung, eine Form des inneren Exils, wenn man so will, gelegentlich mit pädagogischem Anspruch, aber vor allem praktischen Zwecken dienend: die Straftäter ins Gefängnis, die Kranken ins Krankenhaus, die Verrückten in die Anstalt. Ist es nicht offensichtlich, dass diese so menschlichen Lösungen ebenfalls aus Kompromissen entstanden, durch den Reichtum ermöglicht worden und letztlich zufällig geblieben sind? Nach dem Ersten Weltkrieg haben viele begriffen, dass diese Lösungen nicht mehr zeitgemäß waren, dass sie dem neuen Ausmaß der Probleme – ein Resultat der beschränkten wirtschaftlichen Mittel und auch der früher unvorstellbaren Größenordnung des Einsatzes (Millionen Kriegstote) – nicht mehr gerecht wurden. Neue Lösungen waren erforderlich, und sie wurden gefunden, wie der Mensch immer die Lösung findet, die er braucht, wie sie auch die so genannten demokratischen Staaten
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