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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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und ich ließ mich zum Posener Schloss fahren; unterwegs bewunderte ich den blauen Turm und die Arkadenloggia des Rathauses, die bunten Fassaden der schmalen Bürgerhäuser, die sich um den Alten Markt drängten, Spiegelbilder der unaufdringlichen architektonischen Fantasie mehrerer Jahrhunderte, bis dieses flüchtige morgendliche Vergnügen am Schloss selbst ein jähes Ende fand, einer gewaltigen Anhäufung von Steinblöcken an einem großen leeren Platz, plump, mit spitzen Dächern bewehrt, überragt von einem hohen, spitzbogig gefensterten Turm, massiv, pompös, streng, eintönig, vor der sich die bewimpelten Mercedes der Würdenträger reihten. Das Programm begann mit einigen Referaten von Experten aus Speers Umgebung, darunter dem Stahlmagnaten Walter Rohland, die, eines nach dem anderen, mit niederschmetternder Genauigkeit den Zustand der Kriegsproduktion beschrieben. In der ersten Reihe saß, den düsteren Neuigkeiten mit ernster Miene lauschend, ein Gutteil der Staatsführung: Dr. Goebbels, Minister Rosenberg, Reichsjugendführer Axmann, Großadmiral Dönitz, Feldmarschall Milch von der Luftwaffe, dann ein fetter, stiernackiger Mann mit dichtem, nach hinten gekämmtem Haar, nach dem ich mich in einer der Pausen erkundigte: Reichsleiter Bormann, Sekretär des Führers und Chef der Parteikanzlei der NSDAP. Sein Name war mir bekannt, aber ich wusste wenig über ihn; in den Zeitungen und Wochenschauen wurde er nie erwähnt, ich konnte mich nicht erinnern, jemals ein Foto von ihm gesehen zu haben. Nach Rohland war Speer an der Reihe: SeinVortrag, der keine Stunde dauerte, griff die Themen auf, über die er schon am Vortag im Prinz-Albrecht-Palais gesprochen hatte, wiederum in einer erstaunlich offenen, fast schroffen Sprache. Erst jetzt bemerkte ich Mandelbrod: An der Seite war für seine sperrige Plattform Platz geschaffen worden, und er lauschte, die Augen zusammengekniffen, mit der Versunkenheit eines Buddhas, flankiert von seinen beiden Assistentinnen – es waren also doch zwei – und der hohen kantigen Gestalt Herrn Lelands. Speers letzte Worte lösten einen Tumult aus: Auf die Obstruktion der Gaue zurückkommend, drohte er, auch im Namen des Reichsführers, strenge Maßnahmen gegen die Widerspenstigen an. Kaum war er von der Bühne gestiegen, wurde er von mehreren brüllenden Gauleitern umringt; ich war zu weit entfernt, im Hintergrund des Saals, um ihre Äußerungen zu verstehen, aber ich konnte mir denken, wovon die Rede war. Leland hatte sich hinuntergebeugt und flüsterte Mandelbrod einige Worte ins Ohr. Anschließend waren wir zu einem Empfang mit kaltem Buffet in die Stadt geladen, ins Hotel Ostland , wo die Würdenträger untergebracht waren. Mandelbrod wurde von seinen Assistentinnen durch einen Nebenausgang hinausgebracht, doch ich erblickte ihn im Hof und ging auf ihn zu, um ihn und Herrn Leland zu begrüßen. Bei der Gelegenheit sah ich, wie er reiste: Sein Mercedes, eine Sonderanfertigung mit riesigem Fond, besaß eine Vorrichtung, mit der sich sein Sessel, von der Plattform gelöst, in das Fahrzeug schieben ließ; ein zweites Fahrzeug beförderte die Plattform nebst den beiden Assistentinnen. Mandelbrod forderte mich auf, bei ihm einzusteigen, ich nahm Platz auf einem Notsitz; Leland setzte sich vorn neben den Fahrer. Ich bedauerte, nicht bei den jungen Frauen eingestiegen zu sein: Mandelbrod war sich der stinkenden Gase, die sein Körper ausstieß, anscheinend nicht bewusst; glücklicherweise war die Fahrt kurz. Mandelbrod sagte nichts, er schien zu dösen. Ich fragte mich, ob er sichjemals aus seinem Sessel erhob, und wenn nicht, wie er sich ankleidete und wie er seine Notdurft verrichtete. Seine Assistentinnen mussten jedenfalls gegen alles gefeit sein. Während des Empfangs unterhielt ich mich mit zwei Offizieren des Persönlichen Stabs, mit Werner Grothmann, der es überhaupt nicht fassen konnte, zum Nachfolger von Brandt ernannt worden zu sein (Brandt, nun Standartenführer, hatte Wolffs Position übernommen), und einem Adjutanten der Polizei. Sie waren es, glaube ich, die mir zuerst von dem starken Eindruck berichteten, den die Rede des Reichsführers zwei Tage zuvor auf die Gruppenführer gemacht hatte. Wir sprachen auch über die Ablösung Globocniks, von der alle sehr überrascht waren; aber wir kannten uns nicht gut genug, um Vermutungen über die Gründe dieser Versetzung anzustellen. Eine der beiden Amazonen – ich hatte wirklich Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten, ich

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