Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
gefunden hätten, wenn sie ihrer bedurft hätten. Aber warum dann, so würde man heute sicherlichfragen, die Juden? Was haben die Juden mit euren Verrückten, euren Verbrechern, euren ansteckenden Kranken zu tun? Und doch ist unschwer zu erkennen, dass die Juden sich historisch selbst als »Problem« präsentiert haben, weil sie um jeden Preis für sich bleiben wollten. Haben die ersten Schriften gegen die Juden, die der Griechen von Alexandria, lange vor Christus und dem theologischen Antisemitismus, ihnen nicht vorgeworfen, asozial zu sein, die Gesetze der Gastfreundschaft – die Grundlage und das wichtigste politische Prinzip der antiken Welt – im Namen ihrer Speisegebote zu verletzen, die sie daran hinderten, bei anderen zu essen oder sie als Gastgeber zu empfangen? Und dann kam natürlich die religiöse Frage. Ich versuche hier nicht, wie man vielleicht meinen könnte, die Juden für ihre Katastrophe selbst verantwortlich zu machen; ich möchte einfach feststellen, dass eine bestimmte geschichtliche Entwicklung Europas – unglückselig nach Meinung der einen, unvermeidlich nach Meinung der anderen – dafür gesorgt hat, dass es selbst heute noch in Krisenzeiten ein selbstverständlicher Reflex ist, sich gegen die Juden zu wenden, und dass in einer Phase gewaltsamer gesellschaftlicher Umwälzungen früher oder später die Juden dafür aufkommen müssen – früher bei uns, später in der Sowjetunion – und dass das nicht gänzlich zufällig ist. Wenn die Gefahr des Antisemitismus fern ist, verfallen manche Juden gern in Maßlosigkeit.
    Diese Überlegungen findet ihr sicherlich höchst interessant, daran zweifle ich keinen Augenblick; aber ich bin ein wenig abgeschweift, ich habe immer noch nicht von diesem bemerkenswerten Tag, dem 6. Oktober, gesprochen, den ich kurz schildern wollte. Ein kurzes kräftiges Klopfen an meiner Abteiltür hatte mich aus dem Schlaf gerissen; bei den geschlossenen Rouleaus ließ sich unmöglich sagen, wie spät es war, ich musste aber geträumt haben, ich erinnere mich, noch vollkommen desorientiert gewesen zu sein. Dann hörteich die Stimme von Mandelbrods Assistentin, sanft, aber entschieden: »Sturmbannführer. Wir sind in einer halben Stunde da.« Ich wusch mich, zog mich an und ging hinaus, um mir die Beine im Vorzimmer zu vertreten. Dort traf ich die junge Frau an: »Guten Tag, Sturmbannführer. Haben Sie gut geschlafen?« – »Danke, ja. Ist Herr Dr. Mandelbrod schon wach?« – »Ich weiß nicht, Sturmbannführer. Möchten Sie Kaffee? Ein vollständiges Frühstück wird bei der Ankunft serviert.« Sie kam mit einem kleinen Tablett zurück. Ich trank den Kaffee im Stehen, die Beine wegen des schwankenden Zuges leicht auseinandergestellt; sie setzte sich in einen kleinen Sessel, die Beine züchtig übereinandergeschlagen – ich bemerkte, dass sie jetzt einen langen Rock anstelle der schwarzen Hose vom Vortag trug. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammengebunden. »Wollen Sie nicht auch eine Tasse?« – »Nein, danke.« So verharrten wir schweigend, bis das Quietschen der Bremsen zu hören war. Ich gab ihr meine Tasse und nahm mein Gepäck. Der Zug wurde langsamer. »Einen schönen Tag noch«, sagte sie. »Dr. Mandelbrod wird später zu Ihnen stoßen.« Auf dem Bahnsteig herrschte ein kleines Durcheinander; die Gauleiter stiegen verschlafen und gähnend einer nach dem anderen aus dem Zug und wurden von einer Schar Amtsträger in Zivil oder in Uniform in Empfang genommen. Einer von ihnen sah meine SS-Uniform und runzelte die Stirn. Ich wies auf den Waggon von Mandelbrod, und sein Gesicht hellte sich auf: »Entschuldigen Sie bitte!«, sagte er und kam näher. Ich nannte ihm meinen Namen, er zog eine Liste zu Rate: »Ah, ja, hier, Sie sind mit den Mitgliedern der Reichsführung im Hotel Posen untergebracht. Dort ist ein Zimmer für Sie reserviert. Ich besorge Ihnen einen Wagen. Hier ist das Programm.« Im Hotel, einem stattlichen, etwas tristen Gebäude aus der Gründerzeit, duschte ich, rasierte mich, zog mich um und verschlang einige Marmeladenstullen. Gegen acht ging ich hinunterins Foyer. Es begann ein lebhaftes Kommen und Gehen. Schließlich entdeckte ich einen Untergebenen von Brandt, einen Hauptsturmführer, und zeigte ihm das Programm. »Ach, wissen Sie, im Augenblick müssen Sie da nur hinfahren. Der Reichsführer kommt erst am Nachmittag, aber es sind schon einige Offiziere dort.« Das von der Gauleitung zur Verfügung gestellte Fahrzeug wartete noch immer,

Weitere Kostenlose Bücher