Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
den Bericht mit einem Durchschlag für Pohl zuzuschicken; der Reichsführer werde dann später die endgültige Entscheidung treffen, doch bis dahin könne der Bericht als Arbeitsgrundlage dienen. Ich solle mich derweil mit den Berichten des SD über die Fremdarbeiter vertraut machen und auch dazu schon einmal einige Überlegungen anstellen.
    Ich hatte an dem Tag Geburtstag: meinen dreißigsten. Wie in Kiew hatte ich Thomas zum Abendessen eingeladen, sonst wollte ich niemanden sehen. Dabei hatte ich in Berlin viele Bekannte, Kommilitonen von der Universität oder Kameraden vom SD, doch abgesehen von ihm betrachtete ich niemanden als Freund. Seit meiner Genesung hatte ich mich entschieden zurückgezogen; in die Arbeit vertieft, führte ich, von den beruflichen Kontakten abgesehen, praktisch überhaupt kein gesellschaftliches Leben – und schon gar kein Liebes- oder Sexualleben. Ich empfand übrigens auch nicht das geringste Bedürfnis danach; nur mit größtem Unbehagen dachte ich an meine Pariser Exzesse zurück und verspürte nicht den Wunsch, mich so bald wieder auf solche zweifelhaften Abenteuer einzulassen. Ich dachte weder an meine Schwester noch an meine tote Mutter; zumindest erinnere ich mich nicht, viel an sie gedacht zu haben. Vielleicht waren der furchtbare Schrecken meiner Verwundung (obwohl ich vollends wiederhergestellt war, ängstigte mich der Gedanke an sie noch immer und machte mich augenblicklich vollkommen hilflos, als wäre ich aus Glas, aus Kristall, und liefe Gefahr, bei dem geringsten Stoß zu zerspringen) und die Erschütterungen des Frühjahrs dafür verantwortlich, dass es meinen Geist nach eintöniger Ruhe verlangte und ich alles von ihm fernhielt, was ihn hätte beunruhigen können. Doch an diesem Abend – ich war früher zu der Verabredung gegangen, um etwas Zeit zum Nachdenken zu haben, und trank einen Kognak an der Bar – dachte ich wieder an meine Schwester: Immerhin war es auch ihr dreißigster Geburtstag. Wo mochte sie ihn feiern: in der Schweiz, in einem Sanatorium voller Ausländer? Oder in ihrem obskuren pommerschen Domizil? Es war schon lange her, dass wir unseren Geburtstag zusammen gefeiert hatten. Ich versuchte, mich an das letzte Mal zu erinnern: Das musste noch in unserer Kindheit, in Antibes, gewesen sein, doch zu meiner Bestürzunggelang es mir trotz größter Anstrengungen nicht, mich zu erinnern, mir die Szene vor Augen zu führen. Ich konnte das Datum errechnen: Logischerweise musste es 1926 gewesen sein, weil wir 1927 schon im Internat waren; wir waren also dreizehn geworden, ich hätte mich erinnern müssen, aber unmöglich, ich hatte kein Bild vor mir. Vielleicht gab es in den Kartons oder Schachteln auf dem Dachboden in Antibes noch Fotografien von diesem Fest? Ich bedauerte, sie nicht gründlicher durchstöbert zu haben. Je mehr ich über dieses eigentlich blödsinnige Detail nachdachte, desto mehr verdrossen mich meine Gedächtnislücken. Glücklicherweise kam Thomas und riss mich aus meiner Stimmung. Ich habe es sicherlich schon einmal gesagt, möchte es aber noch einmal wiederholen: Was mir an Thomas gefiel, waren der spontane Optimismus, die Vitalität, die Intelligenz, der gelassene Zynismus; sein Klatsch, sein Getratsche voller versteckter Anspielungen waren für mich immer höchst unterhaltsam, mit ihm hatte ich das Gefühl, bis in die verborgensten Winkel des Lebens vorzudringen, die vor den profanen Blicken, die nur die offenkundigen Handlungen der Menschen erfassen, verborgen bleiben, aber durch sein Wissen um die versteckten Zusammenhänge, geheimen Verbindungen, Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ans Licht gebracht wurden. Aus einem bloßen Treffen konnte er, selbst wenn er nicht wusste, was dabei besprochen worden war, eine Umbildung der politischen Kräfte herleiten; und wenn er sich manchmal täuschte, ermöglichte ihm sein unersättlicher Hunger nach neuen Informationen, seine derart fabrizierten waghalsigen Konstruktionen ständig zu korrigieren. Gleichzeitig ließ er aber jegliche Fantasie vermissen, und ich habe oft gedacht, dass er trotz seiner Fähigkeit, ein komplexes Tableau mit wenigen Strichen zu skizzieren, einen miserablen Romancier abgegeben hätte: Bei all seinen Überlegungen und Eingebungen blieb sein Orientierungspunkt stets das persönliche Interesse; undwenn er, sich daran haltend, auch selten falsch lag, so war er doch unfähig, sich andere Beweggründe für die Taten und Worte der Menschen vorzustellen. Seine

Weitere Kostenlose Bücher