Die Wohlgesinnten
Leidenschaft, darin war er das genaue Gegenteil von Voss (was mich an meinen letzten Geburtstag erinnerte, voll Bedauern dachte ich an diese so kurze Freundschaft) –, seine Leidenschaft, sage ich, galt nicht der reinen Erkenntnis, der Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern nur der praktischen Erkenntnis, die ihm das Rüstzeug zum Handeln lieferte. An diesem Abend sprach er viel über Schellenberg, aber merkwürdig andeutungsweise, als müsste ich mir selber einen Reim darauf machen können: Schellenberg hatte Zweifel, Schellenberg dachte über Alternativen nach, doch worauf sich diese Zweifel bezogen, was es mit diesen Alternativen auf sich hatte, wollte er nicht sagen. Ich kannte Schellenberg ein wenig, kann aber nicht behaupten, dass ich ihn schätzte. Im RSHA genoss er so etwas wie eine Sonderstellung, ich denke, vor allem dank seiner privilegierten Beziehung zum Reichsführer. Ich hielt ihn nicht für einen echten Nationalsozialisten, eher für einen Technokraten der Macht, den die Macht an sich und nicht ihr Zweck faszinierte. Während ich diese Zeilen noch einmal lese, wird mir klar, dass ihr von Thomas denselben Eindruck bekommen könntet; doch bei Thomas war es anders, auch wenn er nichts so verabscheute wie theoretische und weltanschauliche Diskussionen – was beispielsweise seine Abneigung gegen Ohlendorf erklärt – und stets seine persönliche Zukunft im Auge behielt, war noch seine kleinste Handlung von einem nationalsozialistischen Instinkt bestimmt. Schellenberg hängte sein Mäntelchen nach dem Wind, und ich konnte ihn mir mühelos in Diensten des englischen Secret Service oder des OSS vorstellen, was bei Thomas undenkbar war. Schellenberg hatte die Gewohnheit, Leute, die er nicht mochte, als Huren zu bezeichnen, und der Ausdruck passte gut zu ihm, denn bei Licht besehen, stimmt es wohl, dass dieSchimpfwörter, die die Menschen am liebsten verwenden, die ihnen als Erstes in den Sinn kommen, letztlich oft ihre eigenen verborgenen Fehler offenbaren, denn sie hassen natürlich nichts so sehr wie das, was ihnen am meisten gleicht. Dieser Gedanke ließ mich den ganzen Abend nicht los, und als ich wieder zu Hause war, spät nachts, etwas angeheitert vielleicht, nahm ich eine Sammlung von Führerreden aus dem Regal, die Frau Gutknecht gehörte, begann sie nach bösartigen Passagen, besonders über die Juden, durchzublättern und fragte mich beim Lesen, ob nicht auch der Führer, wenn er geiferte: Sie sind Lügner, Fälscher, Betrüger. Zu etwas gebracht hat es einer immer nur auf Grund der Einfalt seiner Umgebung , oder dass es den Juden an Fähigkeiten und Schöpfertum in allen Lebensbereichen fehle außer einem: lügen und betrügen, oder dass das ganze Gebäude des Juden einstürze, wenn man sich weigert, ihm zu folgen, oder dass wir ohne Juden leben können, sie aber nicht ohne uns, ob er dann nicht unwissentlich sich selbst beschrieb. Doch dieser Mann sprach nie in seinem eigenen Namen, die Zufälligkeiten seiner Persönlichkeit zählten wenig: Er spielte im Grunde die Rolle eines Brennglases, indem er den Willen des Volkes einfing und im Brennpunkt bündelte, immer an der richtigen Stelle. Sprach er denn nicht, wenn er von sich selbst sprach, von uns allen? Doch das kann ich erst heute sagen.
Während des Abendessens hatte Thomas mir einmal mehr meine Ungeselligkeit und unmöglichen Arbeitszeiten vorgeworfen: »Ich weiß wohl, dass jeder sein Bestes geben muss, aber wenn du so weitermachst, ruinierst du deine Gesundheit. Und Deutschland, das weißt du so gut wie ich, wird den Krieg nicht verlieren, wenn du dir deine Abende und Sonntage frei hältst. Eine Zeit können wir das noch, finde deinenRhythmus, sonst klappst du zusammen. Und schau dich an, du kriegst sogar einen Bauch.« Es stimmte: Ich wurde zwar nicht dick, aber meine Bauchmuskeln erschlafften. »Komm wenigstens mit zum Sport«, sagte Thomas. »Zweimal in der Woche gehe ich zum Fechten und sonntags ins Schwimmbad. Du wirst sehen, es tut dir gut.« Wie immer hatte er Recht. Am Fechten, das ich an der Universität betrieben hatte, fand ich schnell wieder Gefallen; ich entschied mich für den Säbel, da mir der lebhafte und nervöse Charakter dieser Waffe gefiel. Die Sportart war mir sympathisch, weil sie trotz ihrer Aggressivität nicht brutal war: Genauso viel wie die Reflexe und die Gelenkigkeit, die für die Handhabung der Waffe erforderlich sind, zählt die mentale Vorbereitung, die intuitive Antizipation der Bewegungen des
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