Die Wohlgesinnten
anderen, die rasche Berechnung der möglichen Reaktionen, das physische Schachspiel, bei dem man mehrere Aktionen voraussehen muss, denn wenn der Durchgang erst einmal begonnen hat, bleibt keine Zeit mehr zum Überlegen, daher kann man häufig noch vor Beginn der Aktionen sagen, ob der Durchgang gewonnen oder verloren ist, je nachdem ob man das Geschehen richtig vorausgesehen hat, die Stöße selbst dienen dann nur noch dazu, die Berechnungen zu bestätigen oder zu widerlegen. Das Ganze fand im Fechtsaal des RSHA im Prinz-Albrecht-Palais statt; doch zum Schwimmen gingen wir in eine öffentliche Schwimmhalle in Kreuzberg und nicht in die der Gestapo: Zunächst einmal – entscheidend für Thomas – gab es dort Frauen (andere als die ewigen Sekretärinnen), sodann war es größer, und nach dem Schwimmen konnte man sich im Bademantel an Holztischen auf einen großen Balkon setzen und ein kühles Bier trinken, während man den Badenden zuschaute, deren Schreien und Planschen die große Halle erfüllte. Als ich zum ersten Mal dorthin ging, erlebte ich einen heftigen Schock, der mich für den Rest des Tages in einen Zustand schrecklicher Angst versetzte.Wir zogen uns in der Umkleidekabine um: Als ich Thomas ansah, bemerkte ich eine große gabelförmige Narbe, die quer über seinen Bauch verlief. »Wo hast du die denn her?«, rief ich aus. Thomas sah mich verwirrt an: »Na, was denn, aus Stalingrad natürlich. Erinnerst du dich nicht? Du warst doch dabei.« Ich erinnerte mich, gewiss, ich habe es ja auch beschrieben, aber ich hatte es mit allem anderen ganz hinten in meinem Kopf verstaut, in der Abteilung für Halluzinationen und Träume; diese Narbe brachte nun alles durcheinander, plötzlich hatte ich den Eindruck, mir keiner Sache mehr sicher sein zu können. Immer noch starrte ich auf Thomas’ Bauch; er schlug sich mit der flachen Hand darauf und lächelte strahlend: »Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen, es ist gut verheilt. Und die Mädels macht es ganz wild, es muss sie erregen.« Er kniff ein Auge zu und richtete einen Finger auf meinen Kopf, den Daumen aufgestellt wie ein Kind, das Cowboy spielt: »Paff!« Ich spürte förmlich den Schlag gegen meine Stirn, meine Angst wuchs ins Unermessliche, ein graues schlaffes, unförmiges Gebilde, ein monströser Leib, der die enge Kabine füllte und mir jede Bewegungsmöglichkeit nahm – ein entsetzter Gulliver, eingezwängt in ein Haus für Liliputaner. »Mach nicht so ein Gesicht«, rief Thomas ausgelassen, »komm lieber schwimmen!« Das Wasser war erwärmt, aber immer noch erfrischend, es tat mir gut; nach einigen Bahnen war ich erschöpft – ich hatte mich tatsächlich gehen lassen – und legte mich in einen Liegestuhl, während Thomas herumtollte und sich unter Geschrei von ausgelassenen jungen Frauen den Kopf unter Wasser drücken ließ. Ich schaute diesen Menschen zu, die sich verausgabten, amüsierten, ihrer eigenen Kräfte erfreuten, und fühlte mich ihnen sehr fern. Die Körper, selbst die schönsten, versetzten mich nicht mehr in Panik, wie es noch wenige Monate zuvor die Balletttänzer getan hatten; diese jungen Männer und Frauen ließen mich gleichgültig. Unbeteiligtkonnte ich das Spiel der Muskeln unter blasser Haut bewundern, die geschwungene Linie einer Hüfte, das Perlen des Wassers auf einem Nacken: Der vom Zahn der Zeit angenagte Bronze-Apollo in Paris hatte mich stärker erregt als all diese jugendlich-prahlerische Muskulatur, die sich so unbekümmert zur Schau stellte, als spotte sie über das schlaffe, vergilbte Fleisch der wenigen Alten, die diesen Ort aufsuchten. Meine Aufmerksamkeit wurde von einer jungen Frau angezogen, die sich von den anderen durch ihre Ruhe unterschied; während ihre Freundinnen umherliefen oder sich unter Prusten und Jauchzen um Thomas scharten, blieb sie unbeweglich, die Arme angewinkelt auf dem Rand des Schwimmbeckens, den Körper im Wasser, ihr ovales Gesicht unter einer eleganten schwarzen Gummikappe auf die Unterarme gestützt; ihre dunklen ruhigen Augen schauten in meine Richtung. Ich konnte nicht erkennen, ob sie mich wirklich anblickte; ohne sich zu bewegen, schien sie alles, was sich in ihrem Gesichtsfeld befand, wohlgefällig zu betrachten; nach einem langen Augenblick hob sie die Arme und ließ sich langsam unter Wasser sinken. Ich wartete darauf, dass sie wieder hochkam, aber die Sekunden verstrichen; schließlich tauchte sie am anderen Ende des Schwimmbeckens wieder auf, das sie unter Wasser durchschwommen
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