Die Wohlgesinnten
Recht haben, gar nichts mehr. Polen ist ein Frank-Reich ohne Reich. Oder besser ohne Frank.« – »Mit anderen Worten, eher ein kleiner Fürst als ein König.« Trotzdem, von der Wahl des Stückes abgesehen – wenn es denn schon Chopin sein musste, gab es sicherlich Besseres als die Nocturnes –, spielte Frank gar nicht so schlecht, wenn auch eindeutig mit zu viel Pathos. Ich betrachtete seine Frau, auf deren Schultern und Brust, fett und hochrot im Dekolleté ihres Kleides, Schweißperlen glitzerten: Ihre kleinen Augen, tief in ihr Gesicht eingesunken, glänzten vor Stolz. Der Junge schien verschwunden zu sein, ich hörte das durchdringende Geräusch seines Tretautos schon seit einiger Zeit nicht mehr. Es war spät, Gäste verabschiedeten sich; Brandt war zum Reichsführer getreten und hielt sich zu dessen Verfügung, sein aufmerksames Vogelgesicht betrachtete ruhig das Geschehen. Ich kritzelte meine Telefonnummern in ein Notizbuch, riss die Seite heraus und gab sie Osnabrugge. »Hier. Wenn Sie in Berlin sind, rufen Siemich an, dann gehen wir ein Glas trinken.« – »Gehen Sie schon?« Ich deutete mit dem Kinn auf Himmler, Osnabrugge zog die Augenbrauen hoch: »Ach so. Na dann, guten Abend. War mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.« Auf der Bühne beendete Frank sein Stück unter heftigem Kopfwackeln. Ich verzog das Gesicht: Selbst für Chopin war das zu viel, der Generalgouverneur übertrieb definitiv das Legato.
Der Reichsführer brach am nächsten Morgen wieder auf. Im Warthegau hatte der Herbstregen die gepflügten Felder aufgeweicht und Pfützen von der Größe kleiner Teiche hinterlassen, stumpf, als hätten sie das ganze Licht unter dem gleich bleibenden Himmel verschluckt. Kiefernwälder, in denen ich immer schreckliche finstere Taten ahnte, schwärzten diese schlammige endlose Landschaft; nur hier und da richteten in dieser Gegend seltene Birken, von Flammen gekrönt, noch einen letzten Protest gegen die Ankunft des Winters. In Berlin regnete es, die Menschen hasteten in ihrer durchnässten Kleidung vorbei, in den Bombentrichtern der zerstörten Gehsteige bildeten sich gelegentlich unüberwindliche Wasserlöcher, sodass die Fußgänger umkehren und eine andere Straße nehmen mussten. Schon am folgenden Tag fuhr ich nach Oranienburg, um mein Projekt voranzutreiben. Ich war überzeugt, dass mir Sturmbannführer Burger, der neue Amtschef des D IV, die größten Schwierigkeiten machen würde; doch nachdem mir Burger einige Minuten zugehört hatte, erklärte er einfach: »Wenn die Finanzierung geregelt ist, ist mir das egal«, und befahl seinem Adlatus, mir eine Befürwortung aufzusetzen. Dafür machte mir Maurer umso mehr Schwierigkeiten. Alles andere als zufrieden mit dem Fortschritt, den mein Projekt für den Arbeitseinsatz darstellte, fand er, dass es nicht weit genug ginge, und erklärte mir unverblümt,dass er befürchte, mit einer Zustimmung die Tür für alle künftigen Verbesserungen zuzuschlagen. Mehr als eine Stunde lang bearbeitete ich ihn mit allen mir zur Verfügung stehenden Argumenten, erklärte ihm, dass wir ohne Zustimmung des RSHA gar nichts unternehmen könnten und dass das RSHA kein Projekt unterstützen würde, das zu großzügig wäre, aus Angst, den Juden und anderen gefährlichen Feinden Vorschub zu leisten. Doch bei diesem Thema erwies er sich als besonders unzugänglich: Er verlor den Faden, hörte nicht auf zu betonen, dass gerade für die Juden in Auschwitz die Zahlen überhaupt nicht zusammenpassten, dass laut Statistik kaum 10 Prozent von ihnen arbeiteten, wo denn bitte schön die anderen blieben? Es sei doch wohl kaum möglich, dass so viele von ihnen arbeitsunfähig seien. Er schicke zu dieser Frage einen Brief nach dem anderen an Höß, doch der antworte entweder ausweichend oder gar nicht. Maurer suchte offensichtlich nach einer Erklärung, doch ich fand, es sei nicht meine Aufgabe, sie ihm zu liefern; so begnügte ich mich mit dem Hinweis, dass eine Inspektion an Ort und Stelle vielleicht Klarheit brächte. Doch Maurer hatte keine Zeit für Inspektionsreisen. Schließlich gelang es mir, ihm eine eingeschränkte Zustimmung abzuringen: Er erhob keinen Einspruch gegen die Klassifizierung, verlangte aber, dass die Richtwerte heraufgesetzt würden. Zurück in Berlin, erstattete ich Brandt Bericht. Ich erklärte ihm, dass nach meinen Informationen das RSHA den Plan gutheißen werde, auch wenn ich noch keine schriftliche Bestätigung in der Hand hätte. Er befahl mir, ihm
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