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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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legen, weil sie davon träumten, den Deutschen zu gleichen, Deutsche zu sein , weil sie uns sklavisch nachahmen als den Inbegriff dessen, was schön und gut ist am Großbürgertum, das Goldene Kalb derer, die die Strenge der Wüste und des Gesetzes fliehen. Vielleicht haben sie auch nur so getan als ob, vielleichthaben sie am Ende diese Eigenschaften gewissermaßen aus Höflichkeit angenommen, aus einer Art Sympathie, um nicht so abweisend zu wirken. Wir dagegen, wir Deutschen, haben davon geträumt, Juden zu sein, rein zu sein, unzerstörbar, einem Gesetz verpflichtet, anders als alle Anderen, und in der Hand Gottes zu sein. Tatsächlich aber befinden sie sich beide im Irrtum, die Deutschen wie die Juden. Denn wenn Jude heute überhaupt noch etwas bedeutet, dann das Andere: einen Anderen und ein Anderssein, das vielleicht unmöglich, aber notwendig ist.« Sie leerte ihr Glas in einem Zug. »Auch Berndts Freunde haben davon überhaupt nichts begriffen. Sie meinten, das Massaker an den Juden habe letztlich keine große Bedeutung, und indem sie Hitler umbrächten, könnten sie das Verbrechen ganz allein ihm, Himmler, der SS, einigen kranken Mördern, dir anlasten. Aber sie sind dafür genauso verantwortlich wie du, weil auch sie Deutsche sind und weil auch sie Krieg geführt haben, damit dieses Deutschland – und nicht ein anderes – siege. Am schlimmsten aber ist Folgendes: Wenn die Juden davonkommen, wenn Deutschland untergeht und die Juden überleben, werden sie vergessen, was es heißt, Jude zu sein, sie werden mehr als jemals zuvor Deutsche sein wollen.« Ich trank weiter, und während sie in ihrer klaren raschen Sprechweise fortfuhr, stieg mir der Wein zu Kopf. Und plötzlich kam mir meine Halluzination aus dem Zeughaus in Erinnerung: der Führer als Jude mit dem Gebetsschal der Rabbiner und den ledernen Kultobjekten vor einer großen Zahl von Zuhörern, von denen es niemand bemerkte, außer mir , und plötzlich verschwand all das, Una und ihr Mann und unsere Unterhaltung, und ich war allein mit den Resten meiner Mahlzeit und den erlesenen Weinen, betrunken, gesättigt, etwas verbittert, ein Gast, den niemand eingeladen hatte.
    In dieser Nacht schlief ich schlecht in meinem kleinen Bett. Ich hatte zu viel getrunken, alles drehte sich, mein Kopflitt noch unter den Nachwirkungen des Stoßes vom Tag zuvor. Ich hatte die Läden nicht geschlossen, das Mondlicht fiel weich ins Zimmer, ich stellte mir vor, wie es genauso in das Zimmer am Ende des Flurs eindränge, auf den schlafenden Leib meiner Schwester glitte, der nackt unter der Decke lag, und ich wäre gerne dieses Licht gewesen, diese ungreifbare Weichheit, gleichzeitig aber befand sich mein Verstand in wütendem Aufruhr, hallten meine irritierenden Gedanken vom Abendessen in meinem Kopf nach wie das wilde Läuten orthodoxer Glocken zu Ostern und machten die Ruhe zunichte, in die ich hatte eintauchen wollen. Endlich sank ich in den Schlaf, doch das Unbehagen hielt an und tauchte meine Träume in abscheuliche Farben. In einem dunklen Zimmer sah ich eine große schöne Frau in einem langen weißen Kleid, vielleicht einem Hochzeitskleid, ich konnte ihre Gesichtszüge nicht erkennen, aber es war ganz offensichtlich meine Schwester, sie lag ausgestreckt auf dem Boden, auf einem Teppich, und wurde von Krämpfen und unkontrollierbaren Durchfällen überwältigt. Schwarze Scheiße sickerte durch ihr Kleid, innen musste alles damit voll sein. Üxküll, der sie so gefunden hatte, wandte sich wieder in den Flur zurück (er ging), um in gebieterischem Ton einen Liftboy oder Etagenkellner herbeizurufen (es handelte sich also um ein Hotel, ich sagte mir, dass es ihre Hochzeitsnacht sein müsse). Wieder in dem Schlafzimmer, befahl Üxküll dem Kellner, sie an den Armen zu fassen, während er die Füße nahm, um sie ins Badezimmer zu tragen, wo er sie entkleidete und wusch. Er ging dabei unbeteiligt und methodisch zu Werke, der grässliche Geruch, der von ihr ausging, schien ihm nichts auszumachen, mir dagegen nahm er den Atem, ich musste mich zusammennehmen, um meinen Ekel, den aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken (aber wo war ich denn eigentlich in diesem Traum?).
    Ich stand früh auf und ging durch das leere stille Haus. Inder Küche fand ich Brot, Butter, Honig, Kaffee und aß. Anschließend suchte ich den Salon auf und sah mir die Bücher in den Schränken an. Viele deutsche Werke, aber auch englische, italienische, russische; schließlich entschied ich mich mit einer

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