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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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freudigen Aufwallung für die Lehrjahre des Gefühls , die ich auf Französisch fand. Ich setzte mich an ein Fenster und las mehrere Stunden lang, von Zeit zu Zeit hob ich den Kopf, um den Wald und den grauen Himmel zu betrachten. Gegen Mittag machte ich mir Rührei mit Speck, ich aß an dem alten Holztisch, der in der Ecke der Küche stand, und goss mir Bier ein, das ich in großen Schlucken trank. Ich kochte mir Kaffee und rauchte eine Zigarette, dann entschloss ich mich zu einem Spaziergang. Ich zog meinen Offiziersmantel über, ohne ihn zuzuknöpfen: Es war noch immer mild, der Schnee schmolz zwar nicht, verharschte aber und schrumpfte in sich zusammen. Ich durchquerte den Garten und betrat den Wald. Die nicht besonders dicht stehenden Kiefern waren sehr hoch, sie ragten empor und vereinigten sich oben wie zu einem riesigen, auf Säulen ruhenden Gewölbe. Hier und da lagen noch Schneeflecken, der nackte Boden war hart, rot, mit trockenen Nadeln bedeckt, die unter meinen Schritten knirschten. Ich kam auf eine sandige Schneise, eine gerade Linie zwischen den Kiefern. Spuren von Wagenrädern zerfurchten den Boden; am Wegrand waren in Abständen zersägte Holzstämme säuberlich zu Stapeln geschichtet. Der Weg endete an einem grauen Fluss, der vielleicht zehn Meter breit sein mochte; am anderen Ufer stieg ein gepflügtes Feld bergan, dessen Furchen eine schwarze Schraffur in den Schnee warfen und an einen Buchenwald stießen. Ich wandte mich nach rechts, betrat wieder den Wald und folgte dem Lauf des leise rauschenden Flusses. Dabei stellte ich mir vor, dass Una mit mir ginge. Sie trug einen Wollrock, Stiefel, eine Lederjacke für Männer und ihren großen Strickschal. Ich sah sie vor mir schreiten, mit sicheremruhigem Tritt, ich betrachtete sie und ließ das Muskelspiel ihrer Schenkel, ihres Hinterns, ihres stolzen und geraden Rückens in mich eindringen. Ich konnte mir nichts Edleres, Schöneres, Wahreres vorstellen. Etwas weiter mischten sich Eichen und Buchen unter die Kiefern, der Boden wurde morastig und war mit Laub bedeckt, das sich mit Wasser vollgesogen hatte und durch das der Fuß auf einen noch vom Frost gehärteten Schlamm sank. Danach aber stieg das Gelände leicht an, der Untergrund wurde wieder trocken und angenehm zum Gehen. Hier gab es fast nur Kiefern, schlank und gerade wie Pfeile, Jungwald, nach Kahlschlag aufgeforstet. Dann öffnete sich der Wald endlich auf eine kalte Wiese mit dichter Grasdecke, fast ohne Schnee, die über dem unbewegten Wasser des Sees lag. Rechts sah ich einige kleine Häuser, die Straße, den Kamm der Landbrücke, von Tannen und Birken bewachsen. Ich wusste, dass der Fluss die Drage war und dass er von diesem See zum Dratzigsee, von dort weiter zum Krössinsee floss, wo sich eine NS-Ordensburg bei Falkenburg befand. Ich betrachtete die graue Fläche des Sees: rundherum die gleiche Landschaft, ein geordnetes Nebeneinander von schwarzer Erde und Wald. Ich folgte dem Uferweg bis zum Dorf. Ein Bauer in seinem Garten rief mich herbei, ich wechselte ein paar Worte mit ihm; er war beunruhigt, hatte Angst vor den Russen, ich konnte ihm nicht mit genaueren Nachrichten dienen, wusste aber, dass seine Angst nur zu berechtigt war. Auf der Straße wandte ich mich nach links und erklomm langsam den langen Hang zwischen den beiden Seen. Das Wasser war unter den hohen Böschungen verborgen. Auf dem Scheitelpunkt der Landenge kletterte ich auf den Hügel und ging, die Zweige beiseitedrückend, zwischen den Bäumen hindurch bis zu einer erhöhten Stelle, von der aus ich eine ganz Bucht übersah, die sich im Hintergrund auf große unregelmäßige Wasserflächen öffnete. Die Reglosigkeit des Wassers und der schwarzenWälder am anderen Ufer verlieh dieser Landschaft einen feierlichen, geheimnisvollen Charakter – ein Reich jenseits des Lebens, aber noch diesseits des Todes, ein Land zwischen beidem. Ich steckte mir eine Zigarette an und betrachtete den See. Mir fiel ein Gespräch aus unserer Kindheit oder vielmehr unserer Jugend ein, meine Schwester hatte mir eines Tages eine alte pommersche Sage erzählt, die Sage von Vineta, einer schönen und hochmütigen Stadt, die von der Ostsee verschlungen wurde; mittags hörten die Fischer ihre Glocken noch über den Wassern läuten, und einige vermuteten sie in der Nähe von Kolberg. Diese große und überaus reiche Stadt sei, so hatte sie mir mit kindlichem Ernst erklärt, wegen des maßlosen Verlangens einer Frau, der Königstochter, untergegangen.

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