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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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studieren zu dürfen, aber wer weiß, vielleicht sah sie seine Schönheit nicht, vielleicht war die unsichtbar für ihre Augen, vielleicht sah sie seine beunruhigende Fremdheit nicht, das Skandalöse dieser Brüste und dieses Geschlechts, dieses Dings zwischen den Beinen, das man nicht sehen kann, das eifersüchtig seine ganze Pracht verbirgt, vielleicht empfand sie nur seine Last und sein langsames Altern, mit leichter Trauer oder allenfalls dem sanften Gefühl vertrauter Komplizenschaft, aber nie mit der Bitternis panischen Begehrens: Schau, es ist nichts zu sehen. Schwer atmend stand ich auf, ging zum Fenster und sah hinaus auf den Wald. Die Erhitzung vom langen Marsch war verflogen, das Zimmer erschien mir eisig, ich fror. Ich wandte mich dem Sekretär zu, der zwischen denbeiden Fenstern zur Gartenseite an der Wand stand, und versuchte zerstreut, ihn zu öffnen. Er war abgeschlossen. Ich ging hinunter, um mir ein großes Messer aus der Küche zu holen, stapelte Scheite in die Holzwiege, nahm auch die Kognakflasche und einen Schwenker und ging wieder hoch. Im Schlafzimmer goss ich mir Kognak ein, trank einen kleinen Schluck und machte Feuer in dem großen Ofen, der in der Ecke einzementiert war. Als es richtig brannte, richtete ich mich auf und brach das Schloss des Sekretärs mit dem Messer auf. Es gab mühelos nach. Ich setzte mich, das Kognakglas neben mir, und durchwühlte die Schubladen. Ich fand alle möglichen Gegenstände und Papiere vor, Schmuck, einige exotische Muscheln, Fossilien, Geschäftsbriefe, die ich flüchtig überflog, an Una gerichtete Briefe aus der Schweiz, in denen es vor allem um psychologische Fragen und harmlosen Klatsch ging, und vieles andere mehr. In einer Schublade lag, in einer ledernen Schreibmappe verwahrt, ein Bündel Papiere, die mit ihrer Handschrift bedeckt waren: Entwürfe von Briefen an mich, die sie aber nie abgeschickt hatte. Mit pochendem Herzen räumte ich die Schreibplatte leer, stopfte die anderen Sachen in die Schubladen und breitete die Briefe, aufgefächert wie ein Kartenspiel, darauf aus. Ich ließ meine Finger über sie gleiten und wählte einen aus, zufällig, wie ich dachte, aber ganz so zufällig war es wohl doch nicht, denn dieser Brief war vom 28. April 1944 und begann so: Lieber Max, seit einem Jahr ist Mama nun tot. Du hast nie geschrieben, hast mir nie erzählt, was geschehen ist, hast mir nie etwas erklärt … An dieser Stelle brach der Brief ab, ich überflog rasch die anderen, sie schienen alle unabgeschlossen. Ich nahm noch einen Kognak und begann, meiner Schwester alles zu erzählen, genauso wie ich es hier beschrieben habe, ohne irgendetwas auszulassen. Das dauerte einige Zeit; als ich fertig war, war es dunkel im Zimmer. Ich nahm einen anderen Brief und ging zum Fenster. In diesem hier war vonunserem Vater die Rede, und ich las ihn in einem Zug, mit trockenem Mund und vor Angst verkrampft. Una schrieb, dass der Groll, den ich des Vaters wegen gegen unsere Mutter gehegt hätte, ungerecht gewesen sei, dass unsere Mutter seinetwegen ein schweres Leben geführt habe, wegen seiner Kälte, der Zeiten seiner Abwesenheit, seines endgültigen und unerklärlichen Fortgangs. Sie fragte mich, ob ich mich überhaupt an ihn erinnerte. Tatsächlich war mir nur noch wenig im Gedächtnis, ich erinnerte mich an seinen Geruch, seinen Schweiß, wie wir uns auf ihn stürzten, wenn er lesend auf dem Sofa lag, und wie er uns dann lauthals lachend in die Arme nahm. Einmal hatte ich Husten, er hatte mich eine Medizin schlucken lassen, die ich gleich wieder auf den Teppich erbrochen hatte; ich verging vor Scham, ich hatte Angst, er würde böse werden, aber er war sehr liebevoll gewesen, er hatte mich getröstet und dann den Teppich gesäubert. Der Brief ging noch weiter, Una berichtete, ihr Mann habe unseren Vater in Kurland kennengelernt, der habe dort – wie SS-Richter Baumann vermutet hatte – ein Freikorps befehligt. Üxküll hatte eine andere Einheit kommandiert, kannte ihn aber gut. Berndt sagt, er sei ein rasendes Tier gewesen , schrieb sie. Ein Mann, der an nichts glaubte, der keine Grenzen kannte. Er ließ vergewaltigte Frauen an Bäumen kreuzigen, er warf eigenhändig lebende Kinder in brennende Scheunen, er überließ Gefangene seinen Männern, diesen enthemmten Bestien, und lachte und trank, während er sich an den Qualen der Opfer weidete. Als Truppenführer war er verbohrt, stur, ließ sich von niemandem dreinreden. Der ganze Flügel, den er bei Mitau

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