Die Wohlgesinnten
Viele Seefahrer und Ritter hätten die Stadt besucht, um dort zu trinken und sich zu amüsieren, schöne und starke Männer, voller Lebenskraft. Jeden Abend sei die Königstochter verkleidet in die Stadt gegangen, habe die Wirtshäuser und die übelsten Kaschemmen aufgesucht und sich einen Mann gewählt. Den habe sie mit in den Palast genommen und ihm die ganze Nacht beigelegen; am Morgen sei der Mann an Erschöpfung gestorben. Nicht einer, so stark er auch gewesen sei, habe ihrem unersättlichen Verlangen zu widerstehen vermocht. Seinen Leichnam habe sie in einer sturmgepeitschten Bucht ins Meer werfen lassen. Da aber nichts ihr Verlangen habe stillen können, sei es ins Unermessliche gewachsen. Sie sei am Strand gesehen worden, wie sie das Meer angesungen habe, weil sie ihm habe beiliegen wollen. Nur das Meer, so habe sie gesungen, sei groß und mächtig genug, um ihr Verlangen zu stillen. Eines Nachts habe sie schließlich nicht mehr an sich halten können, nackt habe sie den Palast verlassen, im Bett den Leichnam ihres letzten Liebhabers zurücklassend. Es sei eine Sturmnacht gewesen, das Meer habe die Deiche gepeitscht, die die Stadt schützten. Sie sei zum Hafendamm gegangen und habe das großeBronzetor geöffnet, das ihr Vater dort habe bauen lassen. Das Meer sei in die Stadt gedrungen, habe die Prinzessin genommen und zu seiner Frau gemacht, und die überflutete Stadt habe es als Mitgift behalten. Als Una ihre Geschichte beendet hatte, meinte ich, es sei die gleiche Sage, die in Frankreich von der Stadt Ys erzählt werde. »Sicher«, erwiderte sie hochmütig, »aber diese hier ist schöner.« – »Wenn ich sie recht verstehe, besagt sie, dass sich die Ordnung des Gemeinwesens nicht mit der unersättlichen Lust der Frauen verträgt.« – »Ich würde eher sagen, mit der maßlosen Lust der Frauen. Aber was du da vorschlägst, ist eine Männermoral. Ich glaube, dass all diese Ideen, das Maß, die Moral, von Männern erfunden wurden, um die Begrenztheit ihrer Lust zu kompensieren. Denn die Männer wissen seit Langem, dass sich ihre Lust nicht im Entferntesten mit der unseren messen kann, dass unsere Lust von ganz anderer Art ist.«
Auf dem Rückweg fühlte ich mich wie eine leere Hülle, ein Automat. Ich dachte an den schrecklichen Traum der letzten Nacht, ich versuchte mir meine Schwester vorzustellen, ihre Beine mit flüssigem, klebrigem Durchfall beschmiert und wie sie diesen scheußlich süßen Geruch ausströmte. Den zu Skeletten abgemagerten Häftlingen, die sich bei der Evakuierung von Auschwitz unter ihre Decken duckten, klebte auch Scheiße an den Beinen, an Beinen, die wie Streichhölzer aussahen; wer anhielt, um seine Notdurft zu verrichten, wurde exekutiert, also waren sie gezwungen, im Gehen zu scheißen, wie die Pferde. Mit Scheiße beschmiert, wäre Una noch schöner gewesen, sonnenhaft und rein unter diesem Schmutz, der sie nicht berührt hätte, der nicht fähig gewesen wäre, sie zu besudeln. Zwischen ihre befleckten Beine hätte ich mich hingekauert, hilflos wie ein nach Milch und Liebe dürstender Säugling. Diese Gedanken verwüsteten mir den Kopf, sie ließen sich nicht vertreiben, ich hatte Mühe zu atmen und begriff nicht, was mich da so brutal überwältigte.Wieder im Haus, irrte ich ohne Ziel durch Flure und Räume, die Türen wahllos öffnend und schließend. Ich wollte die zu Üxkülls Zimmern öffnen, zögerte aber im letzten Augenblick, die Hand auf dem Türgriff, hielt mich eine unbestimmte Hemmung zurück, wie damals, als ich ein kleines Kind war und in das Arbeitszimmer meines Vaters ging, wenn er nicht da war, um über seine Bücher zu streichen und mit seinen Schmetterlingen zu spielen. Ich stieg wieder die Treppe hinauf und betrat Unas Zimmer. Rasch stieß ich die laut knarrenden Holzläden auf. Die Fenster der einen Seite gingen auf den Hof, die der anderen auf die Terrasse, den Garten und den Wald, hinter dem ich ein Stück des Sees erkennen konnte. Ich setzte mich auf die Truhe am Fußende des Bettes, vor den großen Spiegel, und betrachtete den Mann mir gegenüber, einen schlaffen Gesellen, müde, mürrisch, mit verbittertem Gesicht. Ich erkannte ihn nicht wieder, das konnte nicht ich sein, und doch. Ich richtete mich auf, hob den Kopf, es änderte nicht viel. Ich stellte mir Una vor, vor diesem Spiegel stehend, nackt oder im Kleid, sie musste sich atemberaubend schön finden, und welches Glück sie hatte, sich so sehen, ihren schönen Körper in allen Einzelheiten
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