Die Wohlgesinnten
und ging wieder in mein Zimmer und hielt den Stuhlgangbis zum Morgen zurück. Auf den Leichen der Juden zu gehen war dasselbe Gefühl, ich schoss fast aufs Geratewohl auf alles, was sich noch rührte, dann riss ich mich zusammen und versuchte, mich zu konzentrieren, immerhin ging es darum, den Menschen überflüssiges Leiden zu ersparen, allerdings konnte ich nur den zuoberst Liegenden den Gnadenschuss geben, unter ihnen lagen weitere Verletzte, die noch nicht ganz tot waren, es aber bald sein würden. Ich war nicht der Einzige, der die Fassung verlor, auch einige der Schützen zitterten und tranken zwischen den Schüben. Mir fiel ein junger Mann von der Waffen-SS auf, ich kannte seinen Namen nicht: Er begann, die Maschinenpistole im Hüftanschlag, wild um sich zu schießen, lachte grässlich und leerte sein Magazin planlos, ein Schuss nach links, dann nach rechts, dann zwei, dann drei, wie ein Kind, das nach einer geheimnisvollen inneren Topografie dem Muster eines Pflasters folgt. Ich trat zu ihm und schüttelte ihn, aber er hörte auch unmittelbar vor mir nicht auf, zu lachen und zu schießen, ich entriss ihm die Maschinenpistole und ohrfeigte ihn, dann schickte ich ihn zu den Männern, die die Magazine auffüllten; Grafhorst ließ einen anderen Mann als Ersatz kommen, ich drückte ihm die Maschinenpistole in die Hand und rief: »Machen Sie es ordentlich, verstanden?!« In der Nähe führten sie eine weitere Gruppe heran: Mein Blick begegnete dem eines schönen jungen Mädchens, das fast nackt war, aber sehr elegant, gefasst, die Augen voll unendlicher Traurigkeit. Ich entfernte mich. Als ich zurückkehrte, lebte sie noch, halb auf den Rücken zurückgedreht, die Kugel war ihr unter einer Brust ausgetreten, und sie keuchte, vollkommen starr, ihre hübschen Lippen zitterten und schienen ein Wort bilden zu wollen, sie starrte mich aus großen, überraschten Augen an, ungläubig, die Augen eines verletzten Vogels, und dieser Blick setzte sich in mir fest, zerriss mir den Bauch und ließ einen Strom von Sägemehlherausrieseln, ich war eine gewöhnliche Puppe und spürte nichts, gleichzeitig empfand ich den unwiderstehlichen Drang, mich zu ihr hinabzubeugen und ihr das Gemisch aus Schweiß und Erde von der Stirn zu wischen, ihr die Wange zu streicheln und zu versichern, dass es nicht so schlimm sei, dass alles gut werde, stattdessen riss ich mit einer krampfhaften Bewegung die Pistole hoch und schoss ihr eine Kugel in den Kopf, was im Grunde auf dasselbe hinauslief, auf jeden Fall für sie, wenn auch nicht für mich, denn ich wurde bei dem Gedanken an dieses sinnlos verschwendete Leben von einer ungeheuren, maßlosen Wut gepackt, schoss unaufhörlich weiter, ihr Kopf war längst wie eine überreife Frucht geplatzt, während mein Arm sich von mir löste und sich ganz allein durch die Schlucht davonmachte, hierhin und dorthin schießend, ich lief hinter ihm her, machte ihm mit meinem anderen Arm Zeichen, er solle auf mich warten, aber er wollte nicht, er verhöhnte mich und schoss ganz allein, ohne mich, auf die Verwundeten, bis ich schließlich, völlig außer Atem, stehen blieb und zu weinen begann. Jetzt ist alles vorbei, dachte ich, mein Arm wird nie wiederkommen, doch zu meiner großen Überraschung war er unversehens wieder dort, wo er hingehörte, fest verbunden mit meiner Schulter, und Häfner trat zu mir und sagte: »Es ist gut, Obersturmführer. Ich löse Sie ab.«
Ich stieg wieder hinauf, und jemand gab mir Tee; das warme Getränk stärkte mich ein wenig. Der Mond, drei viertel voll, war aufgegangen und hing im grauen Himmel, bleich und kaum sichtbar. Für die Offiziere war eine kleine Hütte errichtet worden. Ich trat ein und ließ mich ganz hinten auf einer Bank nieder, um zu rauchen und meinen Tee zu trinken. Es waren noch drei weitere Männer in der Hütte, aber niemand sprach. Unten hielt das Geknatter der Salven an: Unermüdlich, methodisch fuhr der von uns eingerichtete gigantische Apparat damit fort, diese Menschen zu vernichten. Esschien nie aufzuhören. Seit den Anfängen der menschlichen Geschichte war der Krieg stets als das größte aller Übel wahrgenommen worden. Doch wir, wir hatten etwas erfunden, neben dem der Krieg richtig und rein erschien, etwas, dem schon jetzt viele dadurch zu entgehen suchten, dass sie sich in die elementaren Sicherheiten von Krieg und Front flüchteten. Selbst die wahnwitzigen Schlächtereien des Ersten Weltkriegs, die unsere Väter und einige unserer älteren
Weitere Kostenlose Bücher