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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Offiziere miterlebt hatten, erschienen fast sauber und gerecht gegenüber dem, was wir in die Welt gebracht hatten. Ich fand das außerordentlich. Mir schien es etwas ganz Entscheidendes zu sein, etwas, was mir, wenn ich es verstünde, erlauben würde, alles zu verstehen und mich endlich auszuruhen. Doch es gelang mir nicht zu denken, meine Gedanken rüttelten und lärmten in meinem Kopf wie Metrozüge, die eine Station nach der anderen durchfuhren, in alle Richtungen und auf allen Ebenen. Doch was sollte es, es würde sich ohnehin niemand um das scheren, was ich denken mochte. Unser System, unser Staat machte sich nicht das Geringste aus dem, was seine Diener dachten. Es war ihm gleichgültig, ob man die Juden tötete, weil man sie hasste oder weil man Karriere machen wollte oder weil es einem, in gewissen Grenzen, sogar Spaß machte. Ebenso gleichgültig war es ihm, ob man die Juden und die Zigeuner und die Russen, die man tötete, nicht hasste und ob man keine Freude daran hatte, sie zu vernichten, nicht die geringste Freude. Im Grunde war es ihm sogar gleichgültig, wenn man sich weigerte, sie zu töten, dann wurden keine Sanktionen verhängt, weil er genau wusste, dass sein Vorrat an potenziellen Schlächtern unerschöpflich war, dass er sich daraus nach Belieben bedienen konnte und dass er einem andere Aufgaben zuweisen konnte, die seinen Fähigkeiten besser entsprachen. Schulz beispielsweise, der Kommandant von Ek 5, der nach Ausgabe des Führerbefehls um seine Versetzung gebeten hatte, war inzwischen abgelöstworden, und es hieß, er habe einen hübschen Posten bei der Staatspolizei in Berlin bekommen. Auch ich hätte um meine Ablösung bitten können und sicherlich eine günstige Beurteilung von Blobel oder Dr. Rasch erhalten. Warum tat ich es dann nicht? Zweifellos hatte ich noch nicht verstanden, was ich verstehen wollte. Würde ich es je verstehen? Nichts war ungewisser. Ein Satz von Chesterton ging mir nicht aus dem Kopf: Ich habe nie gesagt, dass es immer falsch ist, ins Märchenland zu gehen. Ich habe nur gesagt, dass es immer gefährlich ist. War das also der Krieg, ein pervertiertes Märchenland, der Spielplatz eines irrsinnigen Kindes, das unter hysterischem Gelächter sein Spielzeug zerschlägt und das Geschirr fröhlich zum Fenster hinauswirft?
    Kurz vor 18 Uhr ging die Sonne unter, und Blobel befahl eine Ruhepause für die Dauer der Nacht: Die Schützen konnten ohnehin nichts mehr sehen. Er hielt eine rasche Besprechung mit seinen Offizieren ab, im Stehen hinter der Schlucht, um die aufgetretenen Probleme zu diskutieren. Tausende von Juden warteten noch auf dem Platz und in der Melnik-Straße; nach unseren Berechnungen waren schon fast zwanzigtausend erschossen worden. Mehrere Offiziere beklagten sich darüber, dass man die Verurteilten über den Rand der Schlucht schickte: Wenn sie die Szenerie zu ihren Füßen erblickten, gerieten sie in Panik und seien nur schwer unter Kontrolle zu halten. Daraufhin beschloss Blobel, von den Pionieren der Ortskommandantur Zugänge zu den kleineren Geländeeinschnitten graben zu lassen, die in die Hauptschlucht mündeten, und die Juden von dort heranzuführen; so würden sie die Leichen erst im letzten Moment erblicken. Außerdem befahl er, die Toten mit Kalk zu überschütten. Wir kehrten in unsere Unterkünfte zurück. Auf dem Platz vor dem Lukjanowskoje-Friedhof warteten Hunderte von Familien, auf ihren Koffern oder auf der Erde sitzend. Einige hatten Feuer gemacht und kochten sich etwas zu essen. Aufder Straße das gleiche Bild: Die Schlange reichte bis zur Stadt, nur von einer spärlichen Postenkette bewacht. Am nächsten Tag, im Morgengrauen, ging es weiter. Doch ich denke nicht, dass weitere Beschreibungen von Nutzen wären.

Am 1. Oktober war alles vorbei. Blobel ließ die Wände der Schlucht sprengen, um die Leichen zu bedecken; wir erwarteten einen Besuch des Reichsführers, er wollte, dass alles seine Ordnung habe. Währenddessen dauerten die Erschießungen an: weitere Juden, aber auch Kommunisten, Offiziere der Roten Armee, Matrosen der Dneprflotte, Plünderer, Saboteure, Funktionäre, Banderisten, Zigeuner, Tataren. Dann traf das Einsatzkommando 5, jetzt nicht mehr von Schulz, sondern von einem Sturmbannführer Meier befehligt, in Kiew ein, um die Erschießungen und Verwaltungsaufgaben zu übernehmen; unser eigenes Sonderkommando sollte weiter im Kielwasser der 6. Armee in Richtung Poltawa und Charkow marschieren; daher war ich in den Tagen nach

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