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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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mehreren Soldaten flankiert; am ersten Tisch mussten die Juden ihre Papiere abgeben, am zweiten ihr Geld und ihre Wertsachen und Schmuck, dann ihre Wohnungsschlüssel, leserlich beschriftet, schließlich ihre Kleidung und ihre Schuhe. Sie ahnten wohl etwas, sagten aber nichts; auf alle Fälle war die Zone hinter der Postenkette abgeriegelt. Einige Juden versuchten mit den Polizisten zu diskutieren, doch die Ukrainer schrien sie an, schlugen sie, trieben sie in die Schlange zurück. Es wehte ein schneidender Wind, mir war kalt, ich bedauerte, meinen Pullover nicht doch geholt zu haben; von Zeit zu Zeit, wenn der Wind auflebte, hörte man schwaches Geknatter; die meisten Juden schienen es nicht zu bemerken. Hinter der Tischreihe stapelten unsere Askaris die konfiszierte Kleidung in großen Ballen auf Lastwagen, die damit in die Stadt zurückfuhren, wo wir eine zentrale Sammelstelle eingerichtet hatten. Ich ging die Papiere durchsehen, die man in der Mitte des Geländes auf einen Haufen geworfen hatte, um sie später zu verbrennen: zerrissene Pässe, Arbeitsbücher, Gewerkschaftsausweise, Lebensmittelkarten, Familienfotos; die leichteren Blätter wurden vom Wind davongetragen, der ganze Platz war mit ihnen bedeckt. Ich schaute mir einige Fotografien an: Negative, Atelieraufnahmen, Männer, Frauen und Kinder, Großeltern und pausbäckige Babys; hin und wieder ein Urlaubsbild, das das Glück und die Normalität ihres Lebens vor all diesem hier widerspiegelte. Das erinnerte mich an eine Fotografie, die ich in einer Schublade neben meinem Bett aufbewahrt hatte, damals im Internat. Es war die Aufnahme einer preußischen Familie vor dem ErstenWeltkrieg, drei Junker in Kadettenuniform und ein junges Mädchen, augenscheinlich ihre Schwester. Ich weiß nicht mehr, woher ich sie hatte, vielleicht von einem unserer seltenen Ausgänge, von einem Trödler oder Postkartenhändler. Damals war ich sehr unglücklich, man hatte mich wegen einer schweren Verfehlung in dieses scheußliche Internat verbannt (das war in Frankreich, wohin wir einige Jahre nach dem Verschwinden meines Vaters gezogen waren). Nachts studierte ich dieses Foto manchmal stundenlang – bei Mondlicht oder, unter der Bettdecke, beim Schein einer kleinen Taschenlampe. Warum, so fragte ich mich, hatte ich nicht in einer so vollkommenen Familie wie dieser aufwachsen können statt in dieser verderbten Hölle? Auch die jüdischen Familien auf den verstreut herumliegenden Fotos wirkten glücklich; für sie war die Hölle hier, jetzt, und die Vergangenheit verschwunden, sie konnten ihr nur noch nachtrauern. Jenseits der Tische standen die Juden in Unterwäsche und zitterten in der Kälte; die ukrainischen Polizisten trennten die Männer und Jungen von den Frauen und den Kleinkindern; die Frauen, Kinder und Alten lud man auf die Wehrmachts-Lkws, um sie zur Schlucht zu transportieren; die anderen mussten sich zu Fuß dorthin begeben. Häfner war zu mir getreten. »Der Standartenführer sucht Sie. Passen Sie auf, er ist wirklich in Fahrt.« – »Warum?« – »Er nimmt es dem Obergruppenführer übel, dass der ihm seine beiden Polizeibataillone aufs Auge gedrückt hat. Er glaubt, der Obergruppenführer will die ganze Anerkennung für die Aktion einheimsen.« – »Aber das ist dumm.« Blobel kam, er hatte getrunken, und sein Gesicht glänzte. Sobald er meiner ansichtig wurde, begann er mich auf übelste Art zu beschimpfen: »Was zum Teufel treiben Sie? Sie werden hier seit Stunden erwartet.« Ich nahm Haltung an: »Standartenführer! Der SD hat seine eigenen Aufgaben. Ich habe die Sicherheitsvorkehrungen überprüft, um jeden Zwischenfall auszuschließen.«Er beruhigte sich ein wenig: »Und?«, knurrte er. »Scheint alles in Ordnung zu sein, Standartenführer.« – »Gut. Fahren Sie nach oben. Der Brigadeführer will alle Offiziere sehen.«
    Ich stieg wieder in meinen Wagen und folgte den Lkws; am Bestimmungsort ließen die Polizisten die Frauen und Kinder absitzen, die sich wieder den zu Fuß eintreffenden Männern anschlossen. Zahlreiche Juden sangen während des Marsches religiöse Lieder; nur wenige versuchten zu fliehen, sie wurden von den Posten schnell wieder eingefangen oder niedergeschossen. Vom Hügelkamm hörte man deutlich die Feuerstöße, vor allem die Frauen gerieten in Panik. Doch sie konnten nichts tun. Man teilte sie in kleine Gruppen ein, und ein Unterführer, der an einem Tisch saß, zählte sie durch; dann ergriffen unsere Askaris sie und führten sie

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