Die Wohlgesinnten
ist nicht eingeplant. Ich habe mit den Leuten vom AOK darüber gesprochen. Sie haben nichts und schicken pausenlos Meldungen zum OKH; die sind völlig verzweifelt.« Thomas zuckte die Achseln: »Wir kriegen das schon irgendwie hin. In Moskau finden wir alles, was wir brauchen.« – »Die Russen werden alles vernichten, bevor sie sich zurückziehen, darauf kannst du dich verlassen. Und wie gesagt, was ist, wenn wir Moskau nicht einnehmen?« – »Wie kommst du nur darauf, dass wirMoskau nicht einnehmen könnten? Die Roten haben unseren Panzern nichts entgegenzusetzen. Sie haben alles, was sie hatten, nach Wjasma geworfen, und wir haben sie vernichtet.« – »Ja, weil das gute Wetter gehalten hat. Aber der Regen wird von einem Tag auf den anderen kommen. In Uman hat es sogar schon geschneit.« Ich echauffierte mich und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. »Hast du im Sommer gesehen, was passiert, wenn es ein, zwei Tage regnet? Jetzt werden die Niederschläge zwei oder drei Wochen anhalten. Jedes Jahr um diese Zeit kommt das ganze Land zum Stillstand, das war schon immer so. Dann kommen auch die Armeen zum Stillstand. Und hinterher setzt die Kälte ein.« Ironisch musterte Thomas mich; mir brannten die Wangen, vermutlich hatte ich einen roten Kopf. »Du bist ja ein richtiger Militärexperte geworden, das muss ich schon sagen«, meinte er. »Überhaupt nicht, aber wenn man Tag für Tag mit Soldaten zusammen ist, kriegt man so einiges mit. Außerdem lese ich. Beispielsweise habe ich ein Buch über Karl XII. gelesen.« Ich gestikulierte jetzt mit beiden Händen. »Weißt du, wo Romny liegt? Ungefähr dort, wo Guderian mit der Panzergruppe Kleist Fühlung aufgenommen hat? Nun, da hat Karl XII. kurz vor Poltawa im Dezember 1708 sein Hauptquartier aufgeschlagen. Er musste mit seinen Truppen genauso sparsam umgehen wie Peter der Große, daher tanzten sie seit Monaten vorsichtig umeinander herum. Bei Poltawa setzte Peter der Große den Schweden dann gewaltig zu, und sie zogen sich sogleich zurück. Aber das war noch der feudalistische Krieg, die Auseinandersetzung zwischen ritterlichen Kriegsherren, die auf ihre Ehre bedacht und vor allem von gleichem Schlage waren, deren Krieg daher im Grunde seinen höfischen Charakter bewahrte, eine Art rituelles Spiel oder eine Parade, fast eine theatralische Veranstaltung, auf jeden Fall nicht allzu mörderisch. Doch dann wird der Untertan des Königs, egal, ob Bauer oder Bürger, zumCitoyen, das heißt, der Staat demokratisiert sich, und der Krieg wird mit einem Mal total und tragisch, man macht Ernst mit dem Krieg. Deshalb konnte Napoleon ganz Europa unter seine Knute zwingen: nicht weil seine Heere größer waren oder weil er ein besserer Stratege als seine Gegner war, sondern weil die alten Monarchien ihren Krieg noch auf die alte, begrenzte Weise führten. Während er sich schon längst nicht mehr an die Spielregeln des begrenzten Krieges hielt. Napoleons Frankreich steht allen Talenten offen , wie man sagt, die Staatsbürger sind an der Regierung beteiligt, der Staat gibt die Regeln vor, doch das Volk ist der Souverän; daher ist es ganz natürlich, dass dieses Frankreich einen totalen Krieg führt, einen Krieg, in den es all seine Kräfte investiert. Und erst als seine Feinde das begriffen haben und anfangen, sich genauso zu verhalten, als Rostoptschin Moskau niederbrennt und Alexander die Kosaken und die Bauern aufhetzt, damit sie der Grande Armée auf ihrem Rückzug die Hölle heiß machen, wendet sich das Blatt. In einem Krieg, wie ihn Peter der Große und Karl XII. führten, riskiert man nur einen kleinen Einsatz: Wenn man ihn verliert, hört man auf zu spielen. Doch wenn die ganze Nation Krieg führt, spielt sie um alles und muss den Einsatz ständig erhöhen, bis der totale Bankrott droht. Und da liegt das Problem. Wenn wir Moskau nicht einnehmen, können wir den Krieg nicht beenden und einen vernünftigen Frieden aushandeln. Wir müssen also weitermachen. Soll ich dir meine geheimsten Gedanken verraten? Für uns ist dieser Krieg eine Wette. Eine gigantische Wette, bei der die ganze Nation, das ganze Volk auf dem Spiel steht, aber trotzdem eine Wette. Und eine Wette kannst du gewinnen oder verlieren. Die Russen können sich diesen Luxus nicht leisten. Für sie ist es keine Wette, sondern eine Katastrophe, die ihr Land getroffen hat, eine Heimsuchung. Eine Wette kannst du verlieren, aber gegen eine Heimsuchung darfst du nicht verlieren, du bist gezwungen,sie zu
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