Die Wohlgesinnten
verfehlt werden, würde man die Hauptaufgabe der Vernichtung des kommunistischen Apparats zugunsten der arbeitsmäßig leichteren Aufgabe, die Juden auszuschalten, in die zweite oder dritte Reihe stellen. Er wies auf die seiner Meinung nach negative Wirkung einer Vernichtung der Juden hin und nannte eine Reihe von Gründen zugunsten eines umfassenden Arbeitseinsatzes der Juden. Ich gab Thomas den Bericht zurück, den er wieder sorgfältig zusammenfaltete und in seiner Rocktasche verstaute. »Verstehe«, sagte ich mit schmalen Lippen, »aber du wirst zugeben, dass er nicht gänzlich falsch liegt.« – »Sicher! Aber es hat doch keinen Zweck, das Maul so aufzureißen. Das bringt die Sache nicht weiter. Denk an deinen Bericht von 1939. Brigadeführer Thomas hat die Pariser Synagogen von französischen Extremisten in die Luft jagen lassen. Die Wehrmacht hat ihn aus Frankreich hinausgeworfen, aber der Reichsführer war begeistert.« Wir hatten den Wodka geleert, und es wurde abgeräumt;jetzt wurde uns französischer Wein serviert, ein Bordeaux. »Wo haben die den denn aufgetrieben?«, wunderte ich mich. »Eine kleine Überraschung: Ich habe ihn mir von einem Freund schicken lassen. Stell dir vor, sie sind unversehrt eingetroffen. Es sind zwei.« Ich war sehr gerührt, unter den gegebenen Umständen war das wirklich eine noble Geste. Genüsslich ließ ich mir den Wein über die Zunge laufen. »Ich habe ihn lange ruhen lassen«, meinte Thomas. »Das ist was anderes als der moldauische Rachenputzer, nicht wahr?« Er hob sein Glas: »Ich glaube, du bist nicht der Einzige, der heute Geburtstag hat.« – »Stimmt.« Thomas gehörte zu den wenigen Kameraden, die wussten, dass ich eine Zwillingsschwester hatte; im Allgemeinen sprach ich nicht darüber, aber er hatte es damals in meiner Akte gesehen, und ich hatte ihm alles erklärt. »Wie lange ist es her, dass du sie nicht gesehen hast?« – »Bald sieben Jahre.« – »Und, hörst du noch von ihr?« – »Von Zeit zu Zeit. Eher selten.« – »Lebt sie noch in Pommern?« – »Ja. Sie reisen regelmäßig in die Schweiz. Ihr Mann verbringt viel Zeit in Sanatorien. – »Hat sie Kinder?« – »Ich glaube nicht. Würde mich auch wundern. Ich weiß nicht einmal, ob ihr Mann dazu überhaupt fähig ist. Warum?« Wieder hob er das Glas: »Auf ihre Gesundheit also?« – »Auf ihre Gesundheit.« Schweigend tranken wir, die Speisen wurden aufgetragen, und wir aßen unter angeregtem Plaudern. Nach dem Essen ließ Thomas die zweite Flasche öffnen und zog zwei Zigarren aus seiner Jackentasche. »Jetzt oder zum Kognak?« Ich freute mich unbändig, fühlte mich aber gleichzeitig etwas beschämt: »Hör mal, du bist ja wirklich ein Zauberer. Lass sie uns beim Kognak rauchen, aber trinken wir doch erst den Wein aus.« Die Unterhaltung wandte sich der militärischen Lage zu. Thomas war sehr optimistisch: »Hier in der Ukraine kommen wir rasch voran. Von Kleist rückt gegen Melitopol vor, Charkow ist in ein oder zwei Wochen in unserer Hand. Odessakann jeden Tag fallen. Aber vor allem wird der Angriff auf Moskau die Entscheidung bringen. Als Hoth und Hoepner mit ihren Panzergruppen bei Wjasma den Sack zugemacht haben, fielen noch mal eine halbe Million Gefangene an! Die Abwehr spricht von neununddreißig vernichteten Divisionen. Solche Verluste können die Russen auf Dauer nicht verkraften. Außerdem ist Guderian schon fast in Mzensk und wird bald zu den anderen stoßen. Guderian hierherzuschicken, um Kiew einzunehmen, und ihn dann in Richtung Moskau in Marsch zu setzen war ein echter Geniestreich des Führers. Die Roten haben gar nicht gewusst, wie ihnen geschieht. In Moskau dürfte Panik herrschen. In einem Monat sind wir dort, und dann ist der Krieg vorbei.« – »Schon, aber wenn wir Moskau nicht einnehmen?« – »Wir nehmen Moskau.« Ich beharrte: »Ja, aber wenn wir es nicht nehmen? Was geschieht dann? Wie kommt die Wehrmacht durch den Winter? Hast du mit den Leuten von der Verwaltung gesprochen? Die haben nichts für den Winter vorgesehen, gar nichts. Unsere Soldaten tragen immer noch Sommeruniformen. Selbst wenn man jetzt anfängt, warme Kleidung zu liefern, kann man es gar nicht mehr schaffen, die Truppen vernünftig auszustatten. Das ist kriminell! Selbst wenn wir Moskau einnehmen, werden wir Zehntausende unserer Männer allein durch Kälte und Krankheit verlieren.« – »Du bist ein Pessimist. Ich bin sicher, dass der Führer das alles eingeplant hat.« – »Nein, der Winter
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