Die Wohltäter: Roman (German Edition)
zählte offenbar zur typischen Motivation dieses Unternehmens. Er sah Sverker über die Schulter, während dieser weiterredete. An einer Pinnwand aus Kork hing eine Personalliste. Hinter vielen Angestelltennamen waren Kürzel verzeichnet, die Ninos bekannt vorkamen. »MAE« – Tätigkeit mit Mehraufwandsentschädigung, Wiedereingliederungsmaßnahmen oder andere Arten von steuerfinanzierten Arbeitgeberzuschüssen, die HHH davor bewahrten, den vollen Lohn zahlen zu müssen.
Sverker hatte Ömers Papiere noch nicht einmal sehen wollen. Ninos war enttäuscht. Er hatte eine komplette falsche Identität mit Adresse, Personenkennziffer und Familienstand vorbereitet und ärgerte sich bereits darüber, dass er Zeit damit vergeudet hatte, alles auswendig zu lernen.
Ein anderer Mann, ein Däne um die vierzig, wurde hereingerufen, um Ninos in die Halle zu führen. Eine halbe Stunde später hatte er sowohl einen Job als auch die komplette Einweisung erhalten. Die Tätigkeit war nicht besonders anspruchsvoll, aber er bereute es, keine Plastikhandschuhe und keinen Mundschutz mitgebracht zu haben.
Im Vergleich zu den etwas wortkargen Kollegen waren die Chefs in der Sortieranlage eine reine Plage. Sie hätten besser als Sklaventreiber auf eine Baumwollplantage gepasst, fand Ninos. Offenbar hatten sich diese kleinen Möchtegernfaschisten eine Aufgabe im Leben gesucht, bei der sie ihre Neigungen auf ideale Weise ausleben konnten.
Obwohl vier Reinigungskräfte unablässig in der Halle ihre Runden drehten, setzte sich der Staub an den Gaumen und in den Augen aller fest, die hier arbeiteten. Als zusätzlichen Bonus peitschten die Sortierchefs noch verbal das Tempo an. Sie waren nie mit der Sortiergeschwindigkeit zufrieden, und die Methode, die sie zu ihrer Steigerung entwickelt hatten, bestand aus einem ständig wechselnden Rhythmus aus Schmähungen und Drohungen.
»Ihr solltet froh sein, überhaupt einen Job zu haben, deshalb will ich Tempo sehen, wenn ihr hier bleiben wollt! Wisst ihr, wie viele Arbeitslose in Schweden alles dafür tun würden, um hier zu arbeiten?«
Eine Antwort wurde nicht erwartet, und keiner entgegnete etwas, stattdessen senkten alle die Köpfe und versuchten, noch schneller zu arbeiten.
Ninos hatte bereits mehrmals große Lust verspürt, auf Stefan loszugehen, einen der Chefs, der stets eine üble Fahne hatte. Er schrie am schlimmsten. Ninos tat sein Bestes, um das Tempo zu halten, aber ihm wurde von dem vielen Staub übel. Bereits am dritten Tag seiner Sortierkarriere hatte er sich zu Stefans speziellem Prügelknaben entwickelt.
»Glaubst du, wir sind hier an irgendeinem beschissenen Urlaubsort?«, brüllte er Ninos unnötig laut ins Ohr und bohrte ihm provokant seine Faust zwischen die Schulterblätter. »Beeil dich, oder ich tausche dich gegen irgendeinen anderen palästinatreuen Araber aus!«
Ninos merkte, wie er kurz davor war, seine Zähne zu zerstören, so fest biss er sie zusammen; sein ganzes Gesicht bebte. Er wollte sich wirklich beherrschen, aber das Einzige, was ihm einfiel, waren die Worte seines Großvaters: »U mahjo dha haukha shaks kher jo« – Wohltätigkeit bedeutet auch, einem bösen Menschen etwas Böses zu tun.
Sein Großvater war 1941 in Istanbul verhaftet und irrtümlich des Versuchs angeklagt worden, den Nachrichtendienst des türkischen Militärs infiltriert zu haben. Diejenigen Assyrer, die den Völkermord während des Ersten Weltkriegs überlebt hatten, sollten in Schach gehalten werden. Es war unter anderem bis ins Militärhauptquartier vorgedrungen, dass man in einem Kloster heimlich die Muttersprache Aramäisch lehrte.
Ninos’ Großvater war zu fünf Jahren Gefängnis und ebenso vielen Jahren Folter verurteilt worden. 1973 hatte er einen Asylantrag in Schweden gestellt und von da an Geld aus dem Exil an die Familienmitglieder geschickt, die zurückgeblieben waren.
Als im Jahr darauf der Krieg auf Zypern ausbrach, wollten fast alle von Ninos’ Verwandten aus der Türkei fliehen. Ein neuer christlicher Flüchtlingsstrom gelangte nach Schweden, wo man gerade Arbeitskräfte brauchte. So gern die Behörden sie auch ins verschneiteste Norrland gebracht hätten, ballten sich die meisten Flüchtlinge lieber in Södertälje. Den Sachbearbeitern schien es unfassbar, dass jemand auf ein Vielfaches an Platz und eine offene Landschaft verzichten wollte, aber irgendwann akzeptierten sie die Eigenheiten der Einwanderer, die offenbar lieber so dicht beieinander wohnten, dass sie
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