Die Wohltaeter
jedem Atemzug zu. Er blinzelte ein paar Mal und sah, wie die Gruppenleiterin ihren Kopf schief legte und ihn ansah.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. »Es kann manchmal schwierig sein, den Anfang zu machen, wenn viele Gefühle da sind.«
NIEMALS. Er würde niemals den Anfang machen. Nicht hier, nicht mit ihr, nicht neben dem weinenden Gunnar oder den mittlerweile ebenfalls schluchzenden Männern, die nun halb auf Gunnars Schoß saßen und von dort aus versuchten, seinen massigen Körper hin und her zu wiegen.
»Ich muss gehen.« Ninos’ Mund war vollkommen trocken. Er erhob sich unsicher, schwankte und griff nach der Rückenlehne, um sich der Gruppenleiterin zuzuwenden und sich zu entschuldigen. Aber etwas in ihm hielt die Worte zurück, aus denen er einen Satz bilden wollte, und es schien ihm plötzlich wichtig, zu schweigen, ansonsten würde er vielleicht doch in alles hineingezogen.
»Nenoo!«, rief sie ihm nach. »Du kommst sofort zurück. Wir können nicht vor uns selber weglaufen.«
Ninos war schon fast aus der Tür. Er kicherte. Weglaufen. Genau das hatte er vor. Er würde den Schmerz erst hassen und ihn dann bekämpfen, und wenn das nicht half, würde er eben davor weglaufen. So schnell es ging, auch, wenn er dabei wie ein alter Rentner aussah. Er würde laufen, bis er nicht mehr konnte, wenn sich dadurch das Risiko verringerte, von zwei schniefenden, schwedischen Männern umarmt zu werden.
Er trat auf die Fleminggata hinaus und stützte sich mit seinem gesunden Arm an die Backsteinwand. Sein Atem kehrte zurück, als ihm die Nachmittagskälte entgegenschlug. Es war ein schönes Gefühl. Dunkel war es auch, niemand konnte ihn besonders gut sehen,und er sah die anderen nicht. Obwohl er einem die Kraft raubte, war der Winter doch schön, dachte er dankbar. Er hätte es nicht ausgehalten, jetzt Menschen in Shorts bei strahlendem Sonnenschein zu sehen. Wohin sollte er nun gehen? Am liebsten wäre er einfach auf der Straße stehen geblieben, bis alle Organe wieder normal funktionierten, aber es bestand die Gefahr, zu erfrieren. Irgendwohin, wo der Sauerstoffvorrat unerschöpflich war und niemand ihn umarmen oder dazu zwingen wollte, mit acht Augenpaaren zu sprechen.
Obwohl seine Wohnung nur wenige hundert Meter entfernt war, wollte er auf keinen Fall dorthin zurückkehren. Fest umschloss er mit seiner Hand das kleine Kruzifix, das er immer um den Hals trug.
Zweiundzwanzig Minuten später hatte Ninos die Pforte der Sankt-Petrus-Kirche in Hallonbergen erreicht. Er berührte mit der rechten Hand die Tür, küsste dann die Hand und bekreuzigte sich. Es war die nächstgelegene syrisch-orthodoxe Kirche, die ihm eingefallen war. Hauptsache, die Luft dort war gut, aber er konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass dies nicht der Fall war. Der Taxifahrer hatte gemurrt und nicht verstanden, warum er es so eilig gehabt hatte, aber Ninos war sicher gewesen, dass es um Leben und Tod ging. Es war höchste Zeit, ein paar angemessene Antworten einzufordern.
In der Kirche war es still und dunkel. Neben dem Altar brannten einige einsame Kerzen. Ninos kniete vor dem Kirchgang nieder. Er fing an zu beten, um dann zu flehen: »Jetzt bin ich hier. Komm schon. Was willst du?«, murmelte er nach oben. »Ich weiß, dass du einen Plan für mich hast, erzähl mir, was es ist, gib mir ein Zeichen.« Aber in seinem Kopf herrschte noch immer Stille.
Vater Yakup tauchte irgendwo aus dem Inneren der Kirche auf und kam auf ihn zu. Er streckte ihm die Hände entgegen. »Ninos! Was machst du denn hier an einem Nachmittag? Unglaublich!« Er gluckste ein wenig vor sich hin.
Ninos fühlte sich gestört. Er war gerade dabei gewesen, Kontakt herzustellen, und dann kam Vater Yakup und schwatzte.
Sie waren gute Freunde, seit Ninos ihm einmal geholfen hatte, einen Mietvertrag mit dem Verwalter auszuhandeln, der auch das Gebäude betreute, in dem Ninos damals sein Restaurant betrieb. Der Priester war rund sechzig Jahre alt und trug einen langen schwarzen Kaftan mit einem passenden Cape und einer kleinen Kalotte mit aufgesticktem Kreuz. Es war sein Gewand für den Gottesdienst, und Ninos fiel auf, dass es schon nach siebzehn Uhr war und die Zeremonie gerade stattgefunden hatte.
»Barekh Mor Abuna«, grüßte Ninos und pries Gott.
»Aloho Mbarekh Alokh«, erwiderte der Priester die Lobpreisung Gottes.
»Bitte, sei so gut und segne mich und feier mit mir das Abendmahl.«
»Natürlich.« Vater Yakup war schon dabei. »Aber warum? Hast du
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