Die Wolke
Wenn ihn die Radioaktivität nicht umbringt, dann das Militär. Die werden die stark Verseuchten mit Gewalt daran hindern, sich unter die Davongekommenen zu mischen.«
»Du spinnst«, rief die Sommersprossige. »Die können die Leute doch nicht wie die Hasen abknallen –«
»Wenn's ums nackte Überleben geht«, sagte der Blonde, »fällt die Zivilisationstünche ab.«
Janna-Berta war hellwach geworden. Sie sah ihren Vater vor dem Mündungsfeuer der Maschinengewehre, sah ihn schreien und fallen. Sie preßte die Hände vor den Mund.
Der mit der Mähne hielt ein Taschentuch hoch. Es herrschte Windstille. Die Leute trieben sich gegenseitig zur Eile an. Man beschloß, an der Grenze entlang in Richtung Eschwege zu fahren und über Göttingen in den norddeutschen Raum zu gelangen.
»Du fährst doch mit?« fragte die Sommersprossige.
Janna-Berta dachte an Helga in Hamburg. Die Mutter hatte gewollt, daß sie dorthin flüchten sollten, wie auch immer und mit wem auch immer. Aber nun war es ja zu spät. Sie war unter der verseuchten Wolke hergelaufen und vom verseuchten Regen durchnäßt worden. Uli war im Rapsfeld, Vater war vielleicht noch in Schweinfurt, die Mutter mit Kai irgendwo im Katastrophengebiet, vielleicht auf dem Bahnhof von Hünfeld oder immer noch auf dem Schweinfurter Bahnhof. Und Almut, die endlich das Kind erwartete, das sie und Reinhard sich so lange gewünscht hatten – sie alle waren irgendwo hier in der Nähe. Alle, auf die es ihr ankam.
»Nein«, sagte sie, »ich bleib hier.«
»Bist du lebensmüde?« fragte die Sommersprossige.
Janna-Berta zuckte mit den Schultern, dankte und stieg aus. Der VW-Bus wendete und fuhr auf der Gegenfahrbahn zurück. Janna-Berta sah jemanden durch das Rückfenster winken. Mit schwerfälligen Schritten verließ sie die Straße. Die weite, hügelige Landschaft war gelb kariert von den Rapsfeldern.
Sechs Uhr. Die Sonne stand im Westen, die Schatten wurden länger. Eine schöne, friedliche Stimmung. Hier hatte es nicht geregnet. Die Gegend war, wie es schien, noch verschont geblieben.
Janna-Berta schleppte sich hangabwärts in den nächsten Ort. Sie gab nicht acht, wie er hieß. Sie sah die Schilder nicht, die auf die Nähe der DDR-Grenze hinwiesen. Hier waren die Bewohner noch nicht geflüchtet. Aber die Straßen waren wie leergefegt. Nur vor einem Supermarkt gab es Lärm: Scharen von Leuten packten die Kofferräume ihrer Wagen randvoll mit Lebensmitteln. Das sah nicht nach Einkauf aus, sondern nach Plünderung. Auch vor einer Tankstelle ging es lebhaft zu. Eine Wagenschlange staute sich dort, und es wurde geschimpft und geschrien.
Janna-Berta bat um Wasser, aber der Tankwart brüllte sie an, sie solle sich wegscheren. Sie lief weiter, ziellos, im Zickzackkurs. Am Ende des Ortes angekommen, glaubte sie den Durst nicht mehr ertragen zu können. Sie wollte an einer Haustür schellen, fand aber den Klingelknopf nicht. Da trommelte sie mit den Fäusten gegen die Tür.
Eine Fenstergardine bewegte sich. Kurz darauf hörte Janna-Berta Schritte heranschlurfen. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Eine ältere Frau spähte heraus.
»Wenn's nur Wasser ist –«, antwortete sie sichtlich erleichtert und nickte. Dann fragte sie mit einem mißtrauischen Blick: »Du bist doch nicht von hier?«
»Aus Schlitz«, sagte Janna-Berta.
Die Frau wußte nicht, wo Schlitz lag. Janna-Berta mußte es ihr erklären.
»Bei Fulda?« rief die Frau. »Dort ist doch evakuiert worden. Dann bist du ja – hast du etwa schon was abgekriegt?«
»Vielleicht«, antwortete Janna-Berta matt.
Die Frau schloß die Tür und schlurfte davon. Nach einer Weile kehrte sie ohne Wasser zurück. Sie sprach hinter der geschlossenen Tür.
»Es geht nicht«, sagte sie. »Es heißt, jeder strahlt, der von dort kommt.« Sie räusperte sich und fügte hinzu. »Eben haben sie gemeldet, daß auch hier im Kreis Notlazarette eingerichtet werden. Geh zur Polizei. Laß dich dort hinbringen.«
Die Schritte entfernten sich. Janna-Berta blieb noch eine Weile stehen.
»Es geht schon los mit den Flüchtlingen. Wie fünfundvierzig«, hörte sie die Frau sagen. Und eine Männerstimme antwortete: »Schau nach, ob die hintere Tür zu ist.«
Janna-Berta lief weiter, zum Ort hinaus, immer die Straße entlang: eine schnurgerade Lindenallee. Einmal stolperte sie über Bahngleise, die die Straße überquerten. Rechts und links breiteten sich Gärten und Felder aus. Die Allee verengte sich, der Weg lief plötzlich bergauf.
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