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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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als sie Annika in Berts Arme gleiten ließ.
    »Und die anderen?« schrie Marianne. »Die anderen!«
    Janna-Berta deutete stumm auf das Chaos zwischen Tor und Zug. Da brach die Mutter der kleinen Mädchen in Tränen aus. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Sie packte Janna-Berta an den Schultern und schüttelte sie.
    »Du –! Du –!« rief sie schrill.
    Janna-Berta begann zu lachen. Sie hörte sich selber lachen – ein schrilles, verkrampftes, irrsinniges Lachen. Vergeblich versuchte sie aufzuhören. Sie mußte weiterlachen. Bestürzt schlug sie die Hände vors Gesicht und riß sich los. Sie stolperte über Koffer, Taschen und Kinder, kämpfte sich gegen den Sog voran und durch die Lücke in der Mauer, durch die immer noch eine dichte Menschenmenge hereinströmte, hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Dort fuhren gerade Panzerwagen auf. Ein Hubschrauber knatterte heran und kreiste über dem Bahnhof. Irgendwo in der Stadt fielen Schüsse.
    Ohne sich um die Richtung zu kümmern, rannte Janna-Berta davon. Ihr verzweifeltes Gelächter ging unter im Gedröhn des Hubschraubers und des Donners. Sie rannte mitten in die Düsterkeit hinein, die nun den ganzen Himmel beherrschte, mitten hinein in die ersten Tropfen des Regens.

5
    Instinktiv war Janna-Berta nach Süden gelaufen. Niemand bewegte sich in ihrer Richtung, aber zahllose angstverzerrte Gesichter kamen ihr entgegen. Papierfetzen wirbelten durch die Luft, die Bäume bogen sich ächzend unter dem Gewittersturm. Janna-Bertas langes, helles Haar flatterte.
    Sie sah nur das Rapsfeld vor sich. Auf dieses gelbleuchtende Rapsfeld unter der dunklen Wolkenfront lief sie zu. Uli kauerte jetzt sicher ganz verstört im Raps und fühlte sich allein gelassen, ausgesetzt wie der Hund, der hinter dem Wagen hergerannt war, wie Coco in der Wohnung der Großeltern. Bestimmt weinte er und rief nach ihr, voller Angst vor dem schwarzen, giftigen Himmel. Wie hatte sie nur von ihm fortgehen können? Wo sich die Mutter fest auf sie verlassen hatte!
    Unter Blitzen und gewaltigen Donnerschlägen entlud sich das Gewitter über ihr, über der Stadt, über den Unfallstellen und steckengebliebenen Wagenschlangen, über den Flüchtenden, die in panischer Angst nach einem Unterschlupf, einem offenen Hausflur, einem Dachvorsprung suchten, um sich vor dem verseuchten Regen zu retten.
    Nur Janna-Berta versuchte sich nicht zu schützen. Das Rapsfeld, das Rapsfeld!
    »Hab keine Angst, Uli!« schrie sie, während der Regen sie bis auf die Haut durchnäßte. »Hab keine Angst, ich komme!«
    Es war ein schweres Gewitter, ein Wolkenbruch. Das Wasser gluckste bei jedem Schritt in den Schuhen, das Haar klebte am Kopf, die Tropfen rannen ihr in die Augen und in den Mund.
    Sie war auf eine lange Brücke geraten, auf der sich die Autos stauten, die ihr entgegenkamen. Der Regen trommelte auf die Wagendächer. Die Fenster waren geschlossen und von innen beschlagen. Dahinter blieben die Gesichter der Insassen unsichtbar. Janna-Berta war der einzige Fußgänger auf der Brücke. Ein Wagen hupte, als sie an ihm vorbeihastete. Jemand wischte von innen die Scheibe und machte Janna-Berta aufgeregte Zeichen. Aber sie wollte keine Zeit verlieren. Sie mußte zum Rapsfeld, zu Uli. Die gelbe Fläche schien sich zu entfernen. Sie versuchte schneller zu laufen. Ohne daß sie es wußte, näherte sie sich der Autobahn.
    Es goß noch immer so sehr, daß sie nicht erkennen konnte, was auf den Wegweisern stand. Doch das kümmerte sie nicht. Sie sah ja das Rapsfeld deutlich vor sich. Aber es blieb immer in gleicher Entfernung.
    Als sich der Himmel wieder aufhellte und der Regen nachließ, konnte Janna-Berta nicht mehr laufen. Sie keuchte. Die Füße hatten sich in den nassen Schuhen wundgerieben. Es war kühl geworden. Naß von Kopf bis Fuß, schlotterte sie vor Kälte. Jemand rief aus einem Wagen: »Kehr um, Kind – du läufst ja mitten hinein!«
    Auf einmal konnte sie das Rapsfeld nicht mehr sehen. Sie geriet in Panik. Wie konnte sie es aus dem Blick verloren haben? War sie nicht immer darauf zugegangen? Sie versuchte wieder zu laufen, aber es war nur noch ein müdes Stolpern. Als sie dem Bogen der Autobahnauffahrt folgte, glaubte sie geradeaus zu gehen. Sie schwankte hin und her, geriet gefährlich nahe an die Wagen, die hier zügiger fuhren. Schrille Huptöne ließen sie zur Seite springen. Dann war sie auf der Autobahn. Sie trottete auf der Standspur dahin, neben den Leitplanken, wo sonst kein Fußgänger gehen durfte.

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