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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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Niemand jagte sie weg.
    Die Fahrbahn, die nach Osten führte, nach Eisenach, war auch stark befahren, aber nicht verstopft. Es war Janna-Berta egal, wo sie hinführte. Wenn sie sie nur dem Rapsfeld näher brachte. Als sie ein Nottelefon am Straßenrand entdeckte, schöpfte sie neue Hoffnung. Sie hob es ab und horchte hinein.
    »Mutti?« rief sie. »Vati?«
    Aber die Stimme, die sich meldete, war ihr fremd. Sie legte wieder auf, kauerte sich nieder und lehnte sich gegen die Rufsäule. Ab und zu fuhr ein Wagen vorüber und bespritzte sie. Gleichgültig ließ sie es geschehen. Mit weit offenen Augen saß sie so, während Rinnsale und Pfützen, die der Regen hinterlassen hatte, zu dampfen begannen. Dunst hing über den Feldern. Zwischen abziehenden Wolken erschienen Fetzen blauen Himmels.
    Plötzlich bremste mit quietschenden Reifen ein buntbemalter Bus. Er fuhr neben Janna-Berta auf die Standspur und hielt an. Ein Fenster wurde heruntergekurbelt. Eine junge, sommersprossige Frau beugte sich heraus.
    »Hallo«, rief sie, »willst du mitfahren?«
    Janna-Berta antwortete nicht, hob kaum den Kopf. Die Sommersprossige stieg aus und kam auf sie zu.
    »Du kannst doch hier nicht einfach sitzen, so naß, wie du bist«, sagte sie.
    »Nein«, murmelte Janna-Berta.
    »Wo willst du denn hin?«
    »Zum Rapsfeld.«
    Die Sommersprossige drehte sich zum Bus um und winkte den Fahrer heran, einen jungen Mann mit blonden, langen Haaren.
    »Sieh dir das an«, sagte sie leise. »Das arme Ding. Durchgedreht.«
    »Das ist ja noch ein Kind«, sagte er. Dann beugte er sich über Janna-Berta und sagte: »Komm mit uns. Wir fahren dich hin, wo du hinwillst.« Er nahm sie am Arm und zog sie hoch.
    »Paß auf«, warnte die Sommersprossige. »Sie war im Regen. Sie muß voll sein von dem Scheiß.«
    »Daraufkommt's jetzt auch nicht mehr an«, sagte er.
    Sie schubsten Janna-Berta in den Bus. Verbrauchte Luft schlug ihr entgegen. Sie hörte Stimmen, sah, wie sich zwei Hände nach ihr ausstreckten, sah Füße zwischen Stapeln von Gepäck. Danach fielen ihr die Augen zu. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, sie versuchte sich noch gegen die Hände zu wehren, die ihr die Jacke und das nasse T-Shirt über den Kopf zogen. Dann verschwammen alle ihre Empfindungen bis auf zwei: Wärme und Trockenheit. Sie schlief augenblicklich ein.
     
    Irgendwann bremste der Bus scharf. Gepäck und Passagiere wurden nach vorn geschleudert. Ein Seesack fiel auf Janna-Berta. Sie fuhr hoch. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Mehrmals fiel das Wort »Grenze«. Janna-Berta wähnte sich daheim in ihrem Bett, sah dann an sich hinunter, entdeckte, daß sie in Jeans steckte, die ihr zu weit waren, und daß sie ein riesengroßes T-Shirt anhatte, das einmal himmelblau gewesen sein mußte. Auch ihre Socken und Schuhe waren verschwunden. An den bloßen Füßen trug sie jetzt abgelatschte Stoffschuhe mit geflochtener Sisalsohle. Solche Schuhe kannte Janna-Berta aus den Ferien an der Costa Brava. Sie waren leicht und bequem, hielten aber nicht lange. Unter den nackten Zehen spürte sie Sand.
    »Na«, sagte die Sommersprossige zu ihr, »siehst du wieder klar?«
    Janna-Berta schaute sich um. Sechs junge Leute saßen außer ihr im Bus, drei Männer und drei Frauen. Der Bus stand im Stau.
    »Deine Klamotten brauchst du nicht zu suchen«, sagte die Sommersprossige zu ihr, »die haben wir aus dem Fenster geworfen. Das Zeug war ja sicher total verseucht.«
    Die Leute stiegen aus dem Bus und palaverten mit Fahrern und Insassen anderer Wagen. Nur Janna-Berta blieb liegen. Im Halbschlaf hörte sie die Beratungen mit und begriff, worum es ging: Wer die Autobahn in Richtung Eisenach befahren hatte, war darauf aus gewesen, sich nach Berlin oder in die DDR zu retten. Aber nun war seit einer Stunde die Grenze von östlicher Seite geschlossen worden. Ein schwerer Lastwagen hatte daraufhin die ostdeutschen Schlagbäume weggedrückt, um den PKW-Kolonnen hinter ihm freie Durchfahrt zu verschaffen. Aber die Grenzsoldaten hatten sie mit Maschinenpistolen aufgehalten. Die Wagen, die noch hatten wenden können, waren wieder in den Westen zurückgeflüchtet. Nun staute sich hier bei Herleshausen alles, was aus dem Westen gekommen war.
    »Mörder!« schrie jemand. »Schießen auf ihre Brüder!«
    »Die sind genauso in Panik wie wir«, sagte der Blonde ruhig. »Außerdem wird bei uns auch geschossen. Und ich wette, das ist alles erst der Anfang. Aus dem Absperrungsgürtel um Schweinfurt kommt keiner mehr lebend raus.

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