Die Wolke
vor der Tür in Herleshausen und schellte. Nicht eine Fremde öffnete, sondern Frau Soltau spähte durch den Spalt und sagte: »Hol erst deinen Bruder, dann bekommst du zu trinken.«
Und dann watete sie mit Meike, ihrer Freundin, und Ingrid aus der Rhön durch ein riesiges Rapsfeld und suchte Uli, und sie konnte und konnte ihn nicht finden, obwohl er immer wieder leise »kuckuck!« rief.
Ingrid sagte ängstlich: »Ich glaube, wir sollten lieber aufhören mit Suchen, sonst zertreten wir ihn noch.«
Einmal sah sie ihn sogar, seinen blonden Haarschopf zwischen den Blüten, aber als sie sich ihm näherte, war er verschwunden, und Meike sagte: »Mir wird's langweilig. Ich spiel nicht mehr mit.«
»Uli, Uli!« rief Janna-Berta. »Komm raus, wir hören auf zu spielen!«
Hinter ihr rief es wieder »kuckuck!« Aber als sie sich umdrehte, ragte vor ihr die Ruine des Grafenrheinfelder Atomreaktors empor, zerrissen, zersplittert, geborsten.
Reinhard und Almut waren plötzlich auch da, beide ohne Haare auf dem Kopf. Sie hatten Stöcke in der Hand und scharrten damit in der Asche.
»Nicht!« rief Janna-Berta erschrocken. »Das Zeug strahlt doch noch. Lauft fort!«
Aber sie stellten sich taub und scharrten weiter, und Janna-Berta sah, daß sie beide weinten. Sie lief zu Almut und wollte sie wegzerren, aber Reinhard hielt Almut fest und schluchzte: »Wir haben es noch nicht gefunden, Janna-Berta. Du mußt Geduld haben. Eher gehen wir nicht –«
Sie zerrte und zerrte, und wieder fuhr sie schweißnaß aus dem Schlaf. Aber sobald sie sich zurückfallen ließ, stand sie am Ende der Lindenallee, dort, wo sie jäh in den Fluß abbrach. Deutlich sah sie die Reste der Brücke, die hier bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs den Fluß überspannt hatte. Auf der anderen Seite, am jenseitigen Ufer vor dem Dorf, stand der Gefreite von Jos Foto. Auch vor seinen Füßen brach die Straße ab, die aus dem Dorf heraus auf Janna-Berta zuführte. Der Gefreite stolperte fast über seinen langen Mantel. Er schien durch irgend etwas beunruhigt zu sein. Er lief am Abgrund hin und her und machte Janna-Berta Zeichen. Er zeigte hinter sie. Verwundert drehte sie sich um und prallte zurück: Hinter der Silhouette von Herleshausen ballte sich ein dunkles Gewölk zusammen. Drohend zog es heran, dehnte sich aus, füllte den halben Himmel. Die Wolke!
Janna-Berta stand am Abgrund. Mitten im Fluß verlief die Grenze. Verzweifelt starrte sie hinüber.
»Flieg, Janna!« rief der Gefreite herüber.
»Ich kann doch nicht fliegen!« rief Janna-Berta zurück.
»Flieg!« rief er wieder. »Du kannst es, Janna. Breite die Arme aus und laß dich fallen!«
Sie schaute noch einmal über die Schulter. Dann sprang sie. Und sie flog! Sie schwebte! Es war so einfach, so wunderbar einfach –
»Siehst du«, sagte er, als sie ihn erreicht hatte, »wir Toten können das. Daran wirst du dich bald gewöhnen.«
»Bin ich denn tot?« fragte sie.
»Ist dir's nicht recht?« rief er lachend. »Du solltest froh sein. Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«
So ging es Nacht für Nacht. Manchmal tauchten auch Opa Hans-Georg und Oma Berta in ihren Träumen auf, der freundliche Sparkassenbeamte und die Verkäuferin aus dem Metzgerladen. Oder sie sah die drei Jungen aus der Oberstufe, mit denen sie an jenem Tag aus der Schule heimgefahren war, Lars' alten Opel über die Beete eines Vorgartens schieben.
Nur von den Eltern, von Kai und Jo träumte sie nie.
Allmählich ließen Übelkeit und Durchfall nach. Mager, blaß, schwach und unsicher versuchte sie die ersten Schritte. Sie kam nicht weit. Als Tünnes ihr helfen wollte, schickte sie ihn weg. Aber Tag für Tag übte sie. Ihre Kräfte nahmen langsam wieder zu. Die Tage schleppten sich dahin, ohne daß sie sich die Entlassung herbeiwünschte.
Als es dann soweit war und Helga wiederkam, gab es im Nothospital Herleshausen nichts und niemanden mehr, von dem sich zu trennen Janna-Berta schwer geworden wäre. Nur ein paar Kinder, um die sie sich hin und wieder gekümmert hatte, schauten ihr traurig nach, und sie winkte ihnen.
Von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, war sich Janna-Berta selber fremd. Helga hatte ihr teure Unterwäsche mitgebracht, die nach der Zeit vor Grafenrheinfeld roch. Noch nie hatte sie diese Art von Schuhen getragen, wie sie sie jetzt trug, und die schwarze Hose und der schwarze Edelpulli bewirkten, daß sie sich nur noch steif und befangen bewegte.
Kaum waren sie in den Wagen gestiegen, reichte ihr Helga eine
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