Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
Vom Netzwerk:
eine müde Handbewegung. »Kannst du vergessen. Die meisten haben ihr Vieh schon abschlachten müssen. Und das Fleisch hat ihnen niemand abgenommen. Nur hier oben und im südlichen Allgäu wird noch Milch produziert. Aber die ist nicht für Kinder und junge Leute geeignet.«
    » Wir trinken sie auch nicht«, warf Tante Friemel dazwischen.
    »Nach Tschernobyl hätte diese Milch an niemanden verkauft werden dürfen«, meinte Onkel Friemel. »Und trotzdem gehn die Bauern pleite.«
    »Ach ja, mein schöner Gemüsegarten«, klagte Tante Friemel. »Ich darf gar nicht dran denken. Bald wird in ganz Deutschland nur noch Unkraut wuchern.«
    Janna-Berta sah auf dem Schulweg noch mehr. Sie kam an einer ehemaligen Lagerhalle und an einem Kino vorbei. Beide Gebäude waren mit Flüchtlingen und Evakuierten belegt. Auch die Turnhalle der Schule diente als Flüchtlingsunterkunft. Zwischen dem Schulhof und der Turnhalle war ein Bretterzaun errichtet worden. Janna-Berta spähte manchmal durch seine Ritzen. Sie sah Kinder spielen. Erwachsene lehnten an der Turnhallenwand oder saßen auf improvisierten Bänken in der Sonne. Ihre Kleidung wirkte ungepflegt. Manche von ihnen dösten mit geschlossenen Augen, andere starrten vor sich hin. Viele von ihnen sahen krank oder erschöpft aus. Nur wenige Kahlköpfe waren zu sehen, fast alles Männer. Aber manche Frauen trugen Kopftücher, und viele Kinder hatten Mützen auf – mitten im Sommer. Flüchtlingskinder, die am Zaun hochkletterten und neugierig das Treiben auf dem Schulhof beobachteten, scheuchte der Hausmeister wieder hinunter.
    »Wovon leben die eigentlich?« fragte Janna-Berta den Jungen aus Bamberg.
    »Essen kriegen die aus der Gulaschkanone«, sagte er. »Und um die Kleidung kümmert sich das Rote Kreuz. Gleich nach der Katastrophe gab's eine Kleidersammlung. Die Textilhäuser haben auch gespendet. Ladenhüter und Verstaubtes. Wie's mit der ärztlichen Versorgung ist, weiß ich nicht. Aber da wird Vater Staat wohl das Nötige tun. Und für alles andere gibt's Taschengeld, vorläufig, bis alles geregelt ist. Das weiß ich von einem in der 4 b. Der wohnt dort drüben. Der konnte sich nicht mal Turnhose und Turnschuhe kaufen. Die Klasse hat für ihn gesammelt.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Im Bundestag beraten sie über eine Geschädigtenrente für die, die jetzt ganz auf dem trockenen sitzen.«
     
    An einem der nächsten Tage traf Janna-Berta in der Pausenhalle Elmar aus der Fuldaer Klasse. Auch er hatte einen fast kahlen Schädel, und sein Gesicht war grau.
    »Elmar!« rief sie froh.
    Er drehte sich um. Auch sein Gesicht hellte sich auf. Sie blieben die ganze Pause zusammen. Von den anderen aus der Klasse wußte er auch nichts.
    »Es werden wohl ein paar draufgegangen sein«, meinte er. »Die meisten sind zu spät aufgebrochen. Mit der Evakuierung hätte ja viel früher begonnen werden müssen. Typisch für unsere Politiker! Keiner hat den Mumm, die Verantwortung für eine unpopuläre Maßnahme zu übernehmen.«
    Elmar. Er wußte immer, was man hätte besser machen können, und er sprach wie ein Erwachsener.
    »Wir sind auch erst abgefahren«, erzählte er, »als die Straßen schon total verstopft waren. Weil mein Vater irgendwelche Dokumente nicht fand und meine Mutter zu viel Krempel mitnehmen wollte. Jetzt liegt sie in einer Klinik und kann nicht leben und nicht sterben. Mein Vater und ich sind bei Verwandten untergekrochen. Ekelhaft. Wir buckeln uns zu Tode vor lauter Dankbarkeit. Aber immer noch besser als in so einer Turnhalle hausen. Mit dem Buckeln müssen wir uns abfinden: Wer verseucht ist, taugt nur noch zum Almosen- und Mitleidempfänger. Wir sind die Behinderten der Nation.«
    Als es zum Unterricht schellte, begleitete er Janna-Berta bis zu ihrem Klassenzimmer. Auf dem Weg dorthin, inmitten von Lärm und Gedränge, erzählte er ihr, daß sein Vater aus der Kirche ausgetreten sei. »Früher hat er mich jeden Sonntagmorgen in die Messe gescheucht«, sagte er. »Jetzt ist er beleidigt, daß der liebe Gott ihm das nicht angerechnet hat. Er fühlt sich ungerecht behandelt. Statt daß er sich über die Politiker ärgert, die er gewählt hat – oder über sich selber!«
    Schon vor der Klassentür, sagte er hastig: »Ich hab mir seit Grafenrheinfeld viele Gedanken gemacht, auch darüber. Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Gleichung nur aufgeht, wenn man ihn wegkürzt.«
    »Wen?« fragte Janna-Berta.
    »Wen wohl?« sagte Elmar und zeigte mit

Weitere Kostenlose Bücher