Die Wolke
wir nicht sein.«
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die ewige Ungewißheit, die so nervös, so müde, so mürbe machte!
Sie war viel allein. Den Friemels ging sie aus dem Weg. Sie wußte nicht, was sie mit ihnen reden sollte. Zwischen ihnen und Helga spürte sie zunehmende Gereiztheit. Aber auch sie selbst fühlte sich gereizt, vor allem von Helgas gepflegter Selbstdisziplin, die sie nicht nachahmen wollte, und von ihren hohen Ansprüchen, was Bildung, Benehmen und Tradition betraf. Und sie war so penetrant verantwortungsbewußt!
»Es wird allmählich Zeit, daß du wieder zur Schule gehst«, sagte sie nach einer knappen Woche. »Du versäumst sonst zu viel und verlierst den Anschluß.«
Janna-Berta erschrak. Schule? Die war so fern gerückt. Und sie fühlte sich noch so müde und abgespannt. Nicht einmal die Nächte brachten ihr Erholung. Sie quälten sie mit wilden und düsteren Träumen.
Aber Helga bestand auf dem Schulbesuch, und die Friemels pflichteten ihr bei. Janna-Berta fühlte sich zu schwach, um sich gegen Helgas Willen aufzulehnen. Und so meldete Helga sie in der Schule an, an der sie unterrichtete.
Bangen Herzens ging Janna-Berta schon am nächsten Morgen hin. Sie war nicht die einzige Neue in der Klasse. Noch drei andere Flüchtlinge aus dem Katastrophengebiet waren nach Wiederbeginn des Unterrichts dazugekommen. Es gab kaum eine Klasse in dieser Schule, in der nicht wenigstens zwei neue Schüler saßen, und die meisten der Neuen hatten Angehörige verloren. Janna-Berta war also kein Sonderfall, und natürlich versuchte sie sich der Gruppe der Evakuierten anzuschließen.
Gleich am ersten Tag wurde sie von einem Mädchen aus Bad Brückenau ungehalten, ja zornig gefragt: »Warum läufst du so rum?«
Sie zeigte auf Janna-Bertas kahlen Schädel.
»Soll ich mich dafür schämen?« fragte Janna-Berta.
»Schämen nicht«, sagte das Mädchen. »Du brauchst dein Unglück aber auch nicht öffentlich zur Schau zu stellen.«
Ein Junge aus Bamberg nickte finster.
»Du schadest nicht nur dir, sondern uns allen«, sagte eine sehr blasse Blonde. »Setz wenigstens eine Mütze auf! Wir sind Hibakusha, aber das muß ja nicht jeder gleich merken.«
»Hibakusha?« fragte Janna-Berta.
Sie erfuhr, daß das der Name der Überlebenden von Hiroshima war, den jetzt auch die Überlebenden von Grafenrheinfeld trugen.
»Ich bin eine Hibakushi«, sagte sie in Helgas Badezimmer vor dem Spiegel und sah sich prüfend an.
Ja, auch ohne den kahlen Schädel hätte man ihr's angesehen, so mager und kränklich, wie sie jetzt war. Auf der Straße ging man ihr – genau wie den anderen, denen man die Strahlenkrankheit ansah – aus dem Weg. Diese Schneisen, die sich vor ihr und allen öffneten, die jetzt, mitten im Sommer, Mützen und Kopftücher trugen! Diese neugierig-mitleidigen Blicke aus den Augenwinkeln!
Sie lernte schnell: Niemand spottete, niemand grinste, niemand rief ihr Frechheiten nach. Aber keiner wollte neben ihr sitzen, weder in der Schule noch im Bus, und die Friemels erzählten von Bekannten, die zwangsweise in eine Wohnung eingewiesen werden mußten, weil sich die Wohnungsinhaber sträubten, die Evakuierten aufzunehmen.
»Wir sind denen unheimlich«, erklärte das Mädchen aus Bad Brückenau. »Wir könnten ja noch strahlen. Wahrscheinlich tun wir das auch.«
Janna-Berta spähte verstohlen auf ihren Haaransatz. Sie trug eine Perücke.
»Ich glaube, es ist mehr als das«, sagte der Junge aus Bamberg. »Die Flüchtlinge waren nach dem Krieg genauso ungern gesehen. Obwohl sie nicht gestrahlt haben. Meine schlesische Großmutter hat immer davon erzählt. Wer noch mal davongekommen ist, mag sich nicht dauernd dran erinnern lassen, daß andere weniger Glück hatten. Daß sie auf Hilfe angewiesen sind. Und ein Recht auf Hilfe haben!«
Janna-Berta merkte bald, daß das Leben in Hamburg nicht so normal war, wie es ihr in den ersten Tagen erschienen war. Auf ihrem Schulweg begegnete sie langen Schlangen vor den Lebensmittelläden. Sie wunderte sich. Einmal fragte sie.
»Milchpulver aus den Staaten«, bekam sie zur Antwort.
»Da heißt's zugreifen, wenn was Unverseuchtes hereinkommt«, erklärte ihr Tante Friemel.
»Sofern es bezahlbar ist«, fügte Onkel Friemel hinzu. »Jetzt freuen sich alle Dritte-Welt-Länder, die was Eßbares anzubieten haben. Den letzten eßbaren Kehricht werden sie für uns zusammenfegen. Gegen Geld natürlich!«
»Und die Bauern hier?« fragte Janna-Berta.
Onkel Friemel machte
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