Die Wolke
Helga beiseite und beugten sich über Janna-Berta. Die schlug nach ihnen.
»Lügner!« schrie sie, riß sich die Mütze ab und schleuderte sie Tünnes ins Gesicht. Er hielt Janna-Berta fest, bis ihr die Schwester eine Spritze gegeben hatte. Ihr Schreikrampf löste sich. Die Lider fielen ihr zu. Sie stöhnte noch eine Weile, dann verstummte sie.
»Ich hab's nur gut gemeint«, sagte Tünnes. »Krank wie du bist –«
Er legte ihr die Mütze auf die Decke. Sie wischte sie weg.
Tünnes hob hilflos die Schultern und ließ sie wieder fallen. Als ihn jemand vom Gang her rief, verschwand er erleichtert. Helga setzte sich wieder auf den Bettrand. Aber Janna-Berta hielt die Augen geschlossen. Nach einer Weile schlief sie ein.
Als sie, nach Stunden, wieder erwachte, war Helga nicht mehr da. Es war Nacht. In der Ecke schimmerte fahles Notlicht. Ein Fenster war einen Spalt breit geöffnet. Draußen schien der Mond. Er warf sein Licht an die Saalwand. Es roch nach jungem Laub und frischer Erde. Janna-Berta dachte an ihre Eltern. Sie sehnte sich so sehr nach ihnen. Sie erinnerte sich an eine Rhönwanderung. Da war sie auf einem Tragesitz zwischen Vati und Mutti dahingeschaukelt, im Takt zu den Schritten der Eltern. Sie hatten »Engelchen, flieg!« mit ihr gespielt und sie hoch in die Luft geschwungen. Aber sie hatte keine Angst gehabt. Zwischen den Eltern konnte ihr nichts geschehen. »Noch mal! Noch mal!« hatte sie geschrien.
Später hatten die Eltern Uli und Kai so zwischen sich getragen und geschaukelt, und der Tragesitz war schon ziemlich abgenutzt gewesen. Almut hatte ihn beim letzten Besuch mitgenommen, um nach dem Muster einen neuen zu nähen. Es gab ihn so nicht zu kaufen. Jo hatte ihn entworfen.
Almut, wenn sie überhaupt noch lebte, brauchte den alten Sitz nicht zurückzugeben. Bei ihnen, den Meineckes, hatte es sich ausgeschaukelt, und kein Engelchen würde mehr fliegen.
Janna-Berta dachte an Kai. Er war ein rundlicher kleiner Kerl gewesen, mit Grübchen in den Backen und in den Händen. Er hatte sogar ein Grübchen im Kinn gehabt. Sie konnte sich ihn nicht tot vorstellen. Er war immer ein so quicklebendiges Kind gewesen, ein »Stehaufmännchen«, wie Oma Berta meinte. Und auch Jo hatte einmal zu Mutti gesagt: »Den könnte man eine Nacht lang im Garten vergessen – am nächsten Morgen säße er vollgeschneit, aber grinsend vor der Haustür und würde nicht mal niesen.«
Jo – der feine Fenchelgeruch, das dunkle Kraushaar, schon graumeliert, der Mittelscheitel, die braunen Augen, der Flaum auf der Oberlippe, das Grübchen im Kinn, das Kai von ihr geerbt hatte. Jo, die alle drei, vier Jahre von einer Wohnung in die andere umgezogen war und dann jedesmal eine Menge »Krempel« weggeworfen hatte.
»Ich reise nun mal gern mit leichtem Gepäck«, hatte Janna-Berta sie oft sagen hören, und: »Was – schon drei Jahre wohne ich hier in der Jakobystraße? Dann wird's Zeit, daß ich umziehe, sonst kleb ich hier noch fest.«
Mit dem »Krempel« waren bei jedem Umzug viele Fotos in den Müllcontainer gewandert. Nur das Foto, das in einem abgegriffenen Rahmen in allen ihren Wohnzimmern gestanden hatte, war nie verschwunden. Es hatte einen jungen Gefreiten aus dem Zweiten Weltkrieg gezeigt: die Uniform zu groß, die Haare nach hinten gekämmt, ganz und gar altmodisch. Aber sein Gesicht hatte Janna-Berta gern gemocht. Und daß er mit achtzehn Jahren kurz vor Kriegsende gefallen war, hatte sie schon von klein auf sehr traurig gestimmt. Dieser Gefreite hatte Jo Janna genannt. Nach seinem Tod hatte sie sich von niemandem mehr Janna nennen lassen. Gewiß, sie hatte ein paar Jahre nach dem Krieg einen Karl Joost geheiratet, hatte eine Tochter bekommen, Janna-Bertas Mutter, und hatte sich wieder scheiden lassen. Aber dem Toten war sie nie untreu geworden. Das hatte sie Janna-Berta einmal erklärt. Und als ihre Tochter eine Tochter bekommen hatte und sie nach der Mutter und der Schwiegermutter hatte nennen wollen, hatte Jo protestiert:
»Nennt das arme Kind doch nicht Johanna! Wenn's denn unbedingt so heißen soll wie ich, dann nennt es Janna.«
Als Jo schon fünfunddreißig Jahre alt gewesen und längst geschieden war, hatte sie noch ein Kind bekommen, ein Mädchen mit einem schwarzen Schopf, der sich nicht aufgehellt hatte. Von dem Vater des Kindes hatte sie nie gesprochen, und als Janna-Berta Almut einmal nach ihrem Vater gefragt hatte, war Almuts heitere Antwort gewesen: »Na, wer schon? Natürlich der Gefreite auf Jos
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